Mehr Waffen für die Ukraine
15. Juni 2022In Brüssel trafen sich unmittelbar vor der Tagung der NATO-Verteidigungsminister fast 50 Ministerinnen und Minister in der sogenannten Ukraine Verteidigungs-Kontaktgruppe. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg legt Wert darauf, dass es sich bei der "Kontaktgruppe" nicht um eine Veranstaltung des westlichen Bündnisses handelt. Die Waffen für die Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland suchen die Mitglieder der Kontaktgruppe in eigener Regie unter Vorsitz des amerikanischen Außenministers Lloyd Austin zusammen. Die NATO hält sich mit ihren Strukturen heraus, weil sie nicht - auch nicht entfernt - als Kriegspartei gelten will.
Ukrainische Wünsche werden geprüft
Trotzdem gehören alle 30 NATO-Staaten diesem Rüstungsbündis für die Ukraine an, das im April auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in Ramstein zum ersten Mal zusammen kam. Zur Kontaktgruppe gehören rund 20 weitere Partnerstaaten wie Schweden, Finnland, Georgien, Moldau oder auch Ecuador und Australien. "Es geht darum, die dringendsten Anforderungen der Ukraine für Waffen zu erfüllen, damit sie weiter gegen die russischen Angreifer kämpfen kann", beschreibt ein US-Beamter aus dem Verteidigungsministerium die Aufgabe der Kontaktgruppe. "Wir sind fast jeden Tag mit den ukrainischen Freunden in Kontakt, die uns ihre Listen mit Waffen geben, die sie brauchen", sagte Julie Smith, die NATO-Botschafterin der USA. "Wir prüfen diese Anforderungen und versuchen sie mit den Angeboten aus den verschiedenen Staaten in Einklang zu bringen."
"Entscheidender Moment"
Der amerikanische Verteidigungsminister wollte nach der drei Stunden dauernden Sitzung der Ukraine-Kontaktgruppe nicht exakt mitteilen, welches Land was und wann an die bedrängte ukrainische Armee zum Beispiel an der Front im Osten liefert. Nur so viel ist klar: Es geht jetzt darum, möglichst schnell Artillerie, Mehrfach-Raketenwerfer, Kampfdrohnen und gepanzerte Fahrzeugte in die Ukraine zu schaffen. Minister Lloyd Austin, ehemaliger Vier-Sterne-General der US-Armee, sieht die Ukraine "vor einem entscheidenden Moment auf dem Schlachtfeld."
Parallel zu der Sitzung in Brüssel kündigte US-Präsident Joe Biden in Washington nach einem Telefonat mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj zusätzliche Waffenlieferungen im Umfang von einer Milliarde Dollar an. In dem Paket sind auch Anti-Schiffs-Raketen enthalten.
Lieferung von Haubitzen dauert
"Wir erleben jetzt eine Artillerie-Schlacht", beschreibt ein Beamter des Pentagons die Lage. Deshalb seien weiter reichende schwere Waffen nötig, wie zum Beispiel Raketenwerfer, die auch von Russland eingesetzt werden. Die Systeme seien allerdings komplex. Die ukrainischen Soldaten müssten zuerst ausgebildet werden. Das könne noch einige Wochen dauern. Die bloße Lieferung reiche nicht aus. Die Bundeswehr bildet zum Beispiel ukrainische Soldaten in Idar-Oberstein seit Anfang Mai für die Bedienung der Panzerhaubitze 2000 aus, von der Deutschland und die Niederlande angeblich sieben bis elf Systeme in der kommenden Woche liefern wollen. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht will aber keine genauen Zahlen nennen. "Ich werde weder Datum noch werde ich Transportwege öffentlich machen. Denn es geht darum, dass sowohl die Haubitze als auch diejenigen, die an ihr kämpfen werden, sicher in der Ukraine auch ankommen."
Von den schweren Geschützen, die 30 bis 40 Kilometer weit präzise schießen können, hat die Ukraine 1000 Stück auf den langen Bestellzettel geschrieben. Diese Zahl wird sicherlich nicht zur Verfügung stehen auch wenn sich Italien, Ungarn und Griechenland, die diese Haubitze ebenfalls haben, beteiligen würden. Die Bundeswehr verfügt wohl über 120 Haubitzen, die niederländische Armee über circa 50.
"Es ist nie genug"
Auch bei den Raketenwerfern gibt es eine riesige Lücke zwischen Anforderung und bislang bekannten Zusagen. Die Ukraine verlangt 300 Systeme. Die USA, Deutschland und Großbritannien bieten gerade einmal ein knappes Dutzend an. In der Kontaktgruppe wird nun versucht, die Arsenale zu durchforsten und entbehrliches Material, vor allem auch passende Munition, zu finden. "Wir müssen uns selbst stärker antreiben", sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin in Brüssel. Man dürfe nicht den Schwung verlieren. "Wir haben eine Menge gemacht bisher, aber es ist nie genug", sagte Lloyd Austin auf die Anforderungen der Ukraine. Eine Nation hat vielleicht die Waffe, eine andere die passende Munition und eine dritte die nötigen Ersatzteile, meinte ein US-Beamter am Rande der Tagung. Die Aufgabe der Kontaktgruppe, die auf Arbeitsebene ständig kommuniziere, sei es, diese drei zusammen zu bringen.
Die Zeit drängt
Bislang wurden noch keine schweren Waffen oder Panzer aus westlicher Produktion in die Ukraine geschafft, wohl aber zu tausenden Panzer- und Flugabwehrraketen und die dazu gehörende Munition. Aus Polen und anderen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten hat die Ukraine Panzer sowjetischer Bauart erhalten, von denen aber nach Vermutungen von Militärexperten nicht mehr viele zur Verfügung stehen. Die Frage ist nun, ob das ukrainische Militär noch so lange durchhalten kann, bis tatsächlich schwere Artillerie an der Donbass-Front zur Verfügung steht. Bislang hätten die Ukrainer einen hervorragenden Job gemacht und sich von der viel größeren russischen Armee nicht einschüchtern lassen, heißt es auf der Webseite des Pentagons. "Wir sehen keine Zeichen von sinkender Moral, aber sie brauchen leistungsfähige Waffen, um aus weiter Entfernung schießen zu können", heißt es in dem Netzportal. Der frühere ukrainische Präsident Petro Poroschenko (Amtszeit 2014-2019) sagte in einem Interview mit der Deutschen Welle, um einen Frieden zu erreichen, brauche sein Land drei Dinge: "Waffen, Waffen und Waffen."
NATO berät am Donnerstag
An diesem Donnerstag beraten die 30 NATO-Verteidigungsminister über die Aufnahme Finnlands und Schwedens in das Bündnis. Die Türkei hält derzeit noch an ihrem Veto fest. Bis zum Gipfeltreffen der NATO Ende Juni in Madrid soll eine Einigung erzielt werden. Olaf Scholz, der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und der italienische Ministerpräsident Mario Draghi sind inzwischen in Kiew. Es wird erwartet, dass die drei Spitzenpolitiker Zusagen über mehr Waffen für die Ukraine im Gepäck haben.
Dieser Beitrag wurde am 16.06.2022 im letzten Absatz leicht aktualisiert.