Stille Nacht ohne Angst vor der Stille
20. Dezember 2021Angst vor Einsamkeit? Schon zum zweiten Mal trübt Corona das Weihnachtsfest. Doch diesmal wird die Pandemie nicht das letzte Wort haben, da ist sich Christian Fein, Gründer derInitiative KeinerBleibtAllein, absolut sicher.
"Corona macht einsam und nimmt der Einsamkeit gleichzeitig ihren Schrecken", erklärt er im DW-Gespräch. Zwar verstärkten die Kontaktbeschränkungen die soziale Isolation, aber die "Intensität an Einsamkeit" sei nicht mehr so hoch wie in den Jahren zuvor.
Christian Fein muss es wissen: Seit 2016 vermittelt er unter dem Hashtag #KeinerBleibtAllein auf Twitter, Facebook und Instagram zwischen Menschen, die sich einsam fühlen, und Menschen, die Weihnachten und Silvester gerne gemeinsam mit neuen Gesichtern feiern möchten.
Corona räumt auf mit Tabus
"Weil das gesellschaftliche Leben stillsteht, ist es auf einmal völlig okay, alleine zuhause zu sein, weil alle anderen auch alleine zuhause sind", beobachtet der 36 Jahre alte Unternehmensberater für Sicherheitssoftware. "Einsamkeit ist kein Tabuthema mehr."
Doch auch wenn das Thema Einsamkeit während der Corona-Pandemie eine ganz neue Dimension erfahren hat - vor Weihnachten und Silvester grassiert weiterhin die Angst, die Feiertage mutterseelenallein verbringen zu müssen.
Gründer Christian Fein kennt dieses Gefühl aus eigener Erfahrung. 2016 verbrachte er nach einer Trennung Weihnachten zum ersten Mal in seinem Leben allein. Er setzte sich vor den Computer und twitterte sich unter dem Hashtag #keinertwittertallein seine Einsamkeit von der Seele. Die zahlreichen Rückmeldungen zeigten ihm, dass er einen gesellschaftlichen Nerv getroffen hatte.
Kampagne mit der Kirche
Fein begann, über seinen Twitter-Account Menschen miteinander zu vernetzen. 2017 machten dabei über 2700 Menschen mit. Außerdem wurde zusätzlich die Facebookgruppe "Weihnachten (nicht) allein" gegründet. 2018 machte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in ihrer Kampagne gegen Einsamkeit an Weihnachten auf die Initiative aufmerksam.
Im Jahre 2019 erfuhr die Bewegung einen Boom: Zwischen über 63.000 Usern wurden 80.000 Nachrichten ausgetauscht. 6000 Teilnehmer verbrachten Weihnachten in neuer Gesellschaft. Nach einer Zwangspause wegen Corona im vergangenen Jahr hat die Initiative in diesem Jahr wieder an Fahrt aufgenommen.
Gastgeber René Reichelt ist seit 2018 dabei und erinnert sich noch an die erste Weihnachtstafel mit seinen Gästen: "Ich habe für elf Leute gekocht. Es war eine Mischung aus Nachbarn und neuen Leuten, dadurch war es einfach, ins Gespräch zu kommen", sagt der 31-jährige Informatiker.
Facebook-Profile sondieren
Gänzlich unbekannt waren ihm die Gäste nicht. Denn bei der Vermittlung von Anfragen werden die Teilnehmer vorab untereinander auf ihre Facebook-Profile verwiesen. Auf diese Weise können sich alle Beteiligten gegenseitig besser einschätzen und auch schon vorher Kontakt aufnehmen.
An den Feiertagen in diesem Jahr wird sich René Reichelts Gästeliste vermutlich etwas verändern. "Durch Corona erreichen wir Menschen, die vermutlich sonst nicht von unserem Angebot angesprochen worden wären", sagt Gründer Christian Fein.
Weil die Initiative ein digitales Projekt sei, meldeten sich vermehrt junge Menschen. "Für sie ist Einsamkeit sehr belastend, weil die Scham zu groß ist", weiß Fein. "Unser Projekt könnte Türöffner für den gesellschaftlichen Umgang mit Einsamkeit sein."
Jung und einsam
Vor Corona galt Einsamkeit vorrangig als ein Problem älterer Menschen. Nach Berechnungen der Telefonhotline "Silbernetz" für Seniorinnen und Senioren sind in Deutschland rund acht Millionen Menschen im Alter zwischen 60 und 99 wenigstens einen Teil ihrer Zeit von Einsamkeit oder Isolation betroffen.
Doch Corona hat dieses Szenarium verändert. Nach einer Untersuchung des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) vom April 2021 ist das sogenannte Einsamkeitsrisiko während der Pandemie in allen Bevölkerungsgruppen gestiegen, heißt es dort, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Bildung.
Im Gegensatz zu Initiativen wie Silbernetz oder der traditionellen Telefonseelsorge vermittelt die digitale Plattform KeinerBleibtAllein nur an Weihnachten und Silvester Kontakte. "Wir dachten, gerade in Berlin gäbe es Interesse, auch darüber hinaus das Angebot aufrecht zu erhalten, doch das wurde nicht angenommen", erklärt Christian Fein. "Die Leute wissen nicht, worüber sie reden sollen, außer über Einsamkeit."
Gastgeber Reichelt erinnert sich daran, dass schon seine Mutter öfter alleinstehende Nachbarn zu Weihnachten eingeladen hatte. Er setzt nun die Tradition fort, allerdings bewusst ohne religiöse oder kirchliche Verankerung.
"Ich betrachte Weihnachten als einen Feiertag, an dem ich sowieso koche und die Möglichkeit habe, mit anderen zu teilen", sagt er. "Denn man kann die Feiertage ja nicht ausfallen lassen, die finden ja auf jeden Fall statt."