Weder GroKo noch Jamaika
30. Dezember 2017Es war kurz vor Mitternacht am 19. November, als Angela Merkels Traum von einer Jamaika-Koalition platzte. Da stand FDP-Chef Christian Lindner im hell erleuchteten Gebäude der Landesvertretung Baden-Württemberg in Berlin vom Verhandlungstisch auf und erklärte, dass es der FDP jetzt reiche. Die Liberalen könnten keine Politik mittragen, von der sie nicht überzeugt seien. Lindner sprach vor der Tür noch einige Sätze in die Mikrofone und verschwand in die Nacht.
Zurück blieben, entgeistert und enttäuscht, die Kanzlerin und die Unterhändler von CDU, CSU und Grünen. Angela Merkel hatte sich ihrer vierten Amtszeit schon nahe gewähnt, sie hatte das neue schwarz-gelb-grüne Regierungsbündnis für möglich gehalten - und nun das. In den wochenlangen Sondierungsgesprächen hatten sich inhaltliche Gräben aufgetan, die auch die erfahrene Strategin Merkel nicht überbrücken konnte.
Die Republik verändert sich
Im Superwahljahr 2017 hat Merkel also nicht geschafft, was ihr schon dreimal gelungen war: Einige Wochen nach der Wahl ein neues Kabinett und einen mehr oder weniger dicken Stapel Papier zu präsentieren, auf dem "Koalitionsvertrag" steht. Die neuen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag engten ihren Spielraum ein - erstmals ist die rechtspopulistische AfD mit 12,6 Prozent der Stimmen ins Parlament eingezogen.
Und die CDU hatte so massiv an Stimmen verloren, dass sie außer mit der SPD kein Zweierbündnis schmieden konnte. Ein Grund dafür war Merkels umstrittene Flüchtlingspolitik, die zu einem Zerwürfnis mit der bayerischen Schwesterpartei CSU geführt und die Gesellschaft polarisiert hatte. Nie zuvor war war die Kanzlerin im Wahlkampf mit "Hau-ab"-Gebrüll und "Merkel-muss-weg"-Rufen traktiert worden. Nun setzte sie auf ein schwarz-gelb-grünes Bündnis, aber vergebens. "Jamaika-Aus" wurde zum Wort des Jahres gekürt - und in Sachen Regierungsbildung war wieder alles offen.
Merkel allein zu Haus
Die Deutschen gelten als beständig, auch in der Politik. Helmut Kohl, der im vergangenen Juni starb, war 16 Jahre lang Bundeskanzler. Angela Merkel ist seit 2005 im Amt und fühlt sich berufen, es ihm gleichzutun. Allein, sie findet dafür keine Partner mehr. Wer mit oder vielmehr unter Angela Merkel regiert, sagen ihre Kritiker, den regiert sie in den Abgrund, den marginalisiert sie.
Die vergangenen drei Bundestagswahlen zeichnen davon ein klares Bild: 2009, nach der ersten großen Koalition, verlor die SPD massiv an Stimmen. 2013 flogen die Liberalen nach vier gemeinsamen Regierungsjahren mit Merkel aus dem Bundestag und brauchten lange, um sich wieder hochzurappeln. Es folgte erneut eine große Koalition, die sich für die SPD ein weiteres Mal nicht auszahlte: Am 24. September erlitten die Sozialdemokraten das größte Wahldebakel ihrer Geschichte. Die einst so stolze Volkspartei stürzte auf nur 20,5 Prozent der Stimmen ab.
Vorübergehende Wechselstimmung
Dabei hatte das Jahr für die SPD vielversprechend begonnen: Ende Januar trat Vizekanzler Sigmar Gabriel, in dem nur wenige Sozialdemokraten einen schlagkräftigen Merkel-Herausforderer sahen, von seinem Amt als SPD-Chef zurück. Als seinen Nachfolger und Kanzlerkandidaten präsentierte er Martin Schulz, den langjährigen Präsidenten des Europaparlaments.
Diese Entscheidung wirkte auf die Sozialdemokraten wie ein lang ersehnter Befreiungsschlag. Sie feierten Schulz, den Buchhändler aus Würselen, wie einen Retter und Heilsbringer. Tausende neue Mitglieder traten in die SPD ein. Mit sensationellen 100 Prozent der Stimmen wurde Schulz zum Parteivorsitzenden gewählt. Zeitgleich schossen die Umfragewerte für die Sozialdemokraten in die Höhe und überstiegen zeitweise die der CDU. Wechselstimmung lag in der Luft.
Doch der "Schulz-Hype" entpuppte sich als Strohfeuer: Nacheinander verlor die SPD die Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in ihrem Kernland Nordrhein-Westfalen. Wer dort verliert, lautet eine politische Faustformel, kann im Bund nicht gewinnen. So kam es dann auch: Angela Merkel, die sich von der Euphorie rund um Martin Schulz unbeirrt zeigte, holte in den Umfragen auf und lag schon im Frühsommer wieder klar vorne. Martin Schulz seinerseits wusste kein Kapital daraus zu schlagen, dass er innenpolitisch unverbraucht war und Merkels schwarz-rotem Kabinett nicht angehörte: Er verzettelte sich im Wahlkampf und setzte die Kanzlerin inhaltlich zu wenig unter Druck.
Aus dem miserablen Ergebnis zog er noch am Wahlabend Konsequenzen: Die große Koalition sei abgewählt worden, rief Schulz im Willy-Brandt-Haus seinen Anhängern zu, die seine Worte mit tosendem Applaus quittierten. "Ich habe der SPD-Parteiführung deshalb heute Abend empfohlen, dass die SPD in die Opposition geht." Dort werde seine Partei sich "grundsätzlich neu aufstellen" und sich wieder glasklar von der CDU unterscheiden. In einer gemeinsamen Regierung funktioniere das nicht.
Steinmeier gegen Neuwahlen
Doch nach dem "Jamaika-Aus" klingelte bei Martin Schulz das Telefon: Es war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der ihn ins Schloss Bellevue einlud - ebenso wie die Parteivorsitzenden von CDU und CSU. Von da an war es für die SPD vorbei mit der Regeneration in der Opposition. Die Botschaft des Staatsoberhaupts: Als zweitstärkste Partei trage auch die SPD eine Verantwortung dafür, dass Deutschland wieder eine stabile Regierung bekomme. Neuwahlen seien keine akzeptable Lösung.
Und so richten sich alle Augen plötzlich wieder auf die SPD, die Angela Merkel nach der Wahl noch als "nicht regierungsfähig" bezeichnet hatte. Doch davon ist keine Rede mehr, seit die CDU-Chefin machtbewusst auf das Projekt "GroKo 3" zusteuert. Ihre Partei hatte hinter Merkel gestanden, nachdem die Jamaika-Sondierungen gescheitert waren, auch den Streit mit der Schwesterpartei CSU hat sie beigelegt. Nun fehlte nur noch ein Koalitionspartner.
"Ergebnisoffene Gespräche"
Martin Schulz geriet in Zugzwang. Schließlich erklärte er sich zu "konstruktiven, aber ergebnisoffenen" Sondierungsgesprächen mit der Union bereit. Das Verhandlungsmandat holte er sich von einem Parteitag, auf dem allerdings viele Sozialdemokraten eindringlich davor warnten, zum dritten Mal in eine große Koalition unter Merkels Führung einzutreten. Dort könne die SPD zentrale Punkte ihres Programms nicht umsetzen - etwa die Bürgerversicherung oder den Familiennachzug für Flüchtlinge.
In ihrem Unbehagen über eine Neuauflage des ungeliebten Bündnisses bringt die SPD nun auch andere Modelle ins Spiel, etwa eine sogenannte Kooperations-Koalition, die sich nur auf einige gemeinsame Ziele festlegt und strittige Punkte offen lässt. Von solchen Vorschlägen hält Merkel wenig. Eine große Koalition hätte im neuen Bundestag, der mit 709 Abgeordneten der größte aller Zeiten ist, eine klare Mehrheit von 399 Stimmen. Kommt sie nicht zustande, wird die Luft dünn für Merkel. Denn ob die CDU im Fall von Neuwahlen weiterhin geschlossen hinter ihr stünde, ist fraglich.
Verhandlungen ab Januar
Die Hängepartie dauert an. Der Mehrheit der Wähler missfällt sie, die Wirtschaft drängelt und Verbündete in Europa wundern sich. "Bon courage", viel Glück, wünschte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kürzlich Angela Merkel. Ohne eine neue deutsche Regierung kommt er mit seinen Reformplänen in der EU nicht weiter.
Am 7. Januar sollen die Sondierungsgespräche beginnen. Da Martin Schulz seiner Partei versprochen hat, sie in jeden Schritt einzubeziehen, will er sich vor der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen die Zustimmung eines Parteitags holen. Die größere Hürde kommt danach: Bevor die SPD erneut in eine große Koalition eintritt, dürfen die 440.000 Mitglieder darüber abstimmen. Vor Ostern, so die allgemeine Prognose, wird die neue Regierung kaum stehen. Und so endet das außergewöhnliche Wahljahr 2017 damit, dass die alte große Koalition die Geschäfte weiterführt, bis sich eine neue große Koalition zusammengerauft hat - vielleicht.