Was von der Revolution übrig blieb
2. Januar 2004Unsanft wurden die politischen Eliten Mexikos am Neujahrsmorgen 1994 aus ihren Träumen von einem modernen Land gerissen: Ausgerechnet an dem Tag, an dem Mexiko mit Inkrafttreten der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA gewissermaßen die Grenze zur Ersten Welt überschreiten sollte, zog ein kleiner Bundesstaat im Süden die gesamte Aufmerksamkeit auf sich: In der Silvesternacht hatten sich in Chiapas bewaffnete Indio-Rebellen mit der Armee blutige Kämpfe geliefert und fünf Kreisstädte besetzt.
"Basta, ya!" – "Es reicht!"
Mit der Parole "Basta ya!" machte die bis dato unbekannte "Zapatistische Befreiungsarmee" (EZLN) ihrem Unmut Luft: Während nämlich die ferne Hauptstadt schon längst auf Modernisierungskurs war, verharrte Chiapas in Verhältnissen, an denen sich in den letzten Jahrhunderten wenig geändert hatte. Nur eine Minderheit der vorwiegend indigenen Bevölkerung verfügt hier über Wasserversorgung, Strom und ein Stück Landparzelle zur Selbstversorgung. Immer noch sterben viele Menschen an den Folgen von Unterernährung.
Ungeahnte Sympathiewellen und Solidaritätsbekundungen aus aller Welt schlugen der EZLN nach dem Aufstand entgegen, sie entwickelte sich fortan zur Inspirationsquelle für eine Vielzahl von Freiheits- und Anti-Globalisierungsbewegungen, während das Bild des vermummten Anführers "Subcommandante Marcos" ähnlichen Kultstatus wie das Konterfei von Che Guevara erlangte.
Die Beziehung zwischen Regierung und Zapatisten prägt derweil ein Wechselspiel von Dialog, Repression, Versprechungen und Funkstille. Bewegung in die Phase des politischen Stillstandes zu bringen versprach das Jahr 2000: Mit der Wahl von Vicente Fox zum Präsidenten endete nach über 70 Jahren die Alleinherrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution in Mexiko (PRI). Auch die Zapatisten signalisierten nach diesem politischen Neubeginn Gesprächsbereitschaft, während Fox selbst bereits im Wahlkampf vollmundig angekündigt hatte, den schwelenden Konflikt in Chiapas "binnen 15 Minuten zu lösen".
Die "15 Minuten" von Fox
Aus dieser Viertelstunde sind drei Jahre geworden: Gesetzentwürfe über die "Rechte und Kultur der Ureinwohner" blieben weit hinter den Erwartungen der Chiapaneken zurück - so dass diese erneut mit dem Abbruch des Dialogs reagierten. Seitdem herrscht Funkstille.
Zehn Jahre nach dem Aufstand kann die überwiegend indianische Bevölkerung im nach wie vor ärmsten Staat Mexikos zwar einige Erfolge vorweisen, doch viele Forderungen warten noch auf Erfüllung. Zweifellos gelang es ihnen, mit der Revolte auf die elende Situation in Chiapas hinzuweisen. "Die Indígenas sind aus der Anonymität hervorgetreten. Ihre Zukunft ist heute hoffnungsvoller", sagt die mexikanische Indianer-Beauftragte Xóchitl Gálvez.
Kleine Schritte
Auch die politische Landkarte Chiapas' haben die Zapatisten auf eigene Faust neu entworfen. Mehr als 30 "Autonome Gemeinden" gründeten sie seit 1994: Dörfer mit großem indianischen Anteil, die sich um die lokale Verwaltung kümmern und die staatlichen Autoritäten ignorieren. Der seit Jahren versprochenen Landreform halfen sie ebenfalls auf die Sprünge und besetzten mehrere tausend Hektar Ackerland, zum Leidwesen der Großgrundbesitzer. Die Regierung lässt sie gewähren – aus Angst vor einem neuen Aufstand. Mancherorts kauften sie den Besitzern sogar das Land billig ab, um schenkten es dann den Besetzern.
Solange sich jedoch an der Situation in Chiapas faktisch nichts ändert, schwelen dort Unzufriedenheit und die Bereitschaft, erneut zu den Waffen zu greifen. Denn von Aufgeben ist keine Rede, wie Comandante Omar bekräftigt: "Sie haben uns bislang nicht in den Griff bekommen und wir bleiben weiter hier, auch wenn sie das nicht mögen."