FAQs zur Hongkong-Krise
23. August 2019Was ist in Hongkong anders als in Festlandchina?
Fast alles. Allen voran die Schriftzeichen: In Hongkong werden Langzeichen statt vereinfachtes Chinesisch verwendet. Auch dw.com gibt es deshalb in beiden Varianten. Hongkongs Amtssprachen sind Englisch und Chinesisch - eigentlich Kantonesisch, ein Dialekt, der nur in Südchina gesprochen und verstanden wird.
Neben Englisch als Amtssprache ist vieles in Hongkong weiterhin "very britisch". So gilt auf den Straßen Linksverkehr. Und selbst die Netzstecker sind anders. Während man in Hongkong den sogenannten Commonwealth-Stecker braucht, hat Festlandchina ein Mischsystem von Europa, Australien und den USA.
Die Banken in Hongkong drucken ihre eigenen Banknoten, den Hongkong-Dollar (1 Euro = ca. 8,70 HK Dollar).
Und vor allem ist das gesellschaftliche System anders - politisch und wirtschaftlich. Es gibt Wahlen - auch wenn ein wesentlicher Teil der Kandidaten derzeit von der Führung in Peking ausgewählt wird. Es gilt Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Außerdem ist Hongkong kapitalistisch. Und im Gegensatz zum Festland sind Privateigentum und Grundbesitz geschützt.
Die Hongkonger sind zwar chinesische Staatsbürger, haben aber den Reisepass der Sonderverwaltungszone Hongkong, mit dem man zum Beispiel visafrei in die Schengen-Staaten nach Europa einreisen darf, also auch nach Deutschland. Besitzer chinesischer Reisepässe brauchen hierfür ein Visum. An der Grenze zwischen Hongkong und Festlandchina finden Pass- und Zollkontrollen statt.
Was bedeutet "Ein Land, zwei Systeme"?
150 Jahre lang hatte Großbritannien Hongkong von China gepachtet, zuerst die Hongkong-Insel, später die Stadtteile Kowloon und New Territorium. Die Vereinbarung lief am 30. Juni 1997 aus. Die Briten übergaben ihre Kronkolonie an China.
Der chinesische Reformpolitiker Deng Xiaoping (1904-1997) erfand schon in den 1980er Jahren den Begriff "Ein Land, zwei Systeme", um die Rückkehr Hongkongs rechtlich möglich zu machen. "Zwei Systeme in einem Land sind machbar und zulässig", sagte Deng 1982. "Sie sollen das System auf dem Festland nicht zerstören, wir sollen das andere auch nicht zerstören."
Diese Haltung prägte die chinesisch-britischen Verhandlungen zur Rückgabe des Stadtstaates, was 1984 in einer gemeinsamen Erklärung zu Hongkong mündete und später im Grundgesetz für die Stadt an Chinas Südküste, dem sogenannten "Basic Law".
Was ist im "Basic Law" geregelt?
Nach der Rückgabe an China 1997 ist neben der chinesischen Verfassung das "Basic Law" das zentrale Rechtsdokument Hongkongs. Der Nationale Volkskongress in Peking gründete 1985 einen 59-köpfigen Parlamentarischen Rat, der das "Basic Law" schrieb. 23 Mitglieder des Rates waren Hongkonger, wie der Immobilientycoon Li Ka-shing, Democratic-Party-Mitgründer Martin Lee Chu-ming sowie der Schriftsteller Louis Cha Leung-yung.
Nachdem 1988 und 1989 zwei öffentliche Anhörungen in Hongkong stattgefunden hatten, wurde das "Basic Law" 1990 durch den Volkskongress in Peking ratifiziert und es trat am 1. Juli 1997 in Kraft. Das "Basic Law" garantiert Presse- und Meinungsfreiheit. Auch Religions- und Versammlungsfreiheit haben in Hongkong Verfassungsrang. Außerdem sind freie Wahlen zumindest vorgesehen (siehe unten).
Was bedeutet die 50-Jahre-Frist?
Artikel 5 des Hongkonger "Basic Laws" sieht vor, dass der Sozialismus nicht in Hongkong gilt. Dort steht: "Das kapitalistische System und der Lebensstil bleiben für 50 Jahre unverändert." Aber was versteht man unter Lebensstil, beziehungsweise "Way of Life", wie es wörtlich in Artikel 5 heißt?
Es gibt unterschiedliche Lesarten, wofür die Frist konkret gilt, die am 30. Juni 2047 ausläuft. Die chinesische Zentralregierung beteuert, dass "der Grundsatz 'Ein Land, zwei Systeme' nicht verändert wird", wie Staatspräsident Xi Jinping sagte, als er 2017 in Hongkong auf der Feier anlässlich des 20. Jubiläums der Gründung der Sonderverwaltungszone Hongkong sprach.
Jasper Tsang Yok-sing, Ex-Parlamentspräsident von Hongkong, ist der Ansicht, die Frist beziehe sich ausschließlich auf Artikel 5. Das "Basic Law" bleibe auch nach 2047 gültig. Die Opposition befürchtet jedoch, dass mit dem möglichen Ende des kapitalistischen Systems auch der Grundsatz "Ein Land, zwei Systeme" nicht mehr gilt und die bürgerlichen Freiheiten sowie die noch zu erkämpfende volle Demokratie ein Ende finden würden.
Was fordern die Demonstranten?
Auslöser der seit gut vier Monaten andauernden Proteste war das umstrittene Auslieferungsgesetz, das Hongkongs pekingfreundliche Regierungschefin Carrie Lam durch das Stadtparlament peitschen wollte. Die Regelung sieht vor, dass Tatverdächtigen aus Hongkong, denen Verbrechen in China vorgeworfen werden, auch auf dem Festland der Prozess gemacht werden darf. Lam legte das Gesetz inzwischen aufs Eis. Doch die Demonstranten wollen, dass es komplett vom Tisch genommen wird.
Mit der Zeit wurden die Demonstrationen immer größer, zugleich wurde das Vorgehen der Polizei brutaler: Tränengas und Gummigeschosse kamen zum Einsatz. Die Protestbewegung fordert nun die komplette Aufklärung dieser Polizeieinsätze, bei denen Demonstranten - aus Sicht vieler - vorsätzlich verletzt wurden. Lam, die als regierungsunfähig bezeichnet wird, solle zurücktreten, so eine weitere Forderung. Das ultimative Ziel der Protestbewegung ist, dass allgemeine und freie Wahlen stattfinden.
Zwar gibt es in Hongkong auch Unabhängigkeitsbestrebungen, aber die großen politischen Parteien, auch die Opposition, haben sich klar von solchen Positionen distanziert. Auch auf den bisherigen Kundgebungen der Protestbewegung wurde keine Abspaltung von China gefordert. Die Demonstranten sprachen lediglich von "Befreiung" im Sinne von Einräumung von Freiheiten.
Warum finden keine allgemeinen Wahlen statt?
In der bisherigen Praxis wurde Hongkongs Führungsspitze von einem chinafreundlichen Komitee gewählt und von der Zentralregierung ernannt - so auch die aktuelle Verwaltungschefin Lam.
Im Stadtparlament, dem "Legislative Council" (Legco), wurde in den vergangenen vier Legislaturperioden seit 2004 die Hälfte der Sitze direkt gewählt. Die andere Hälfte wurde von sogenannten "gesellschaftsrelevanten Gruppen" ("Functional Constituency") berufen. Derzeit hat die prochinesische Fraktion mit 43 Sitzen eine knappe Mehrheit in diesem 70-köpfigen Gremium.
Das "Basic Law" sieht zwar allgemeine freie Wahlen des Verwaltungschefs und aller Sitze im Parlament vor, enthält allerdings keinen Zeitplan (Artikel 45 und 68). Die Bemühungen der Opposition in Hongkong, ein allgemeines Wahlrecht durchzusetzen, blieben bisher ergebnislos.
2014 stimmte der Volkskongress in Peking den allgemeinen Wahlen unter der Auflage zu, dass die von China eingesetzte Findungskommission vorab die Kandidaten aussucht. Diese Regelung fand aber 2015 im Hongkonger Legco nicht die nötige Zweidrittelmehrheit.
Welche Rechte hat China in Hongkong?
Nur für Verteidigung und Außenpolitik ist die Zentralregierung in Peking offiziell zuständig. Alle anderen hoheitlichen Aufgaben, wie Gesetzgebung und Rechtsprechung, darf Hongkong selbst ausüben. Das regeln Artikel 13 und 14 im "Basic Law".
Darf China Soldaten in Hongkong einsetzen?
Rechtlich gesehen ja - ein Einsatz gilt aber als unwahrscheinlich.
In Artikel 14 des "Basic Laws" heißt es: "Die Volksbefreiungsarmee mischt sich nicht in die lokalen Angelegenheiten in Hongkong ein." Die Armee darf nicht "vom Amts wegen" aktiv werden.
Aber: "Die Hongkonger Regierung ist befugt, bei der Zentralregierung nötigenfalls unterstützende Einsätze der Volksbefreiungsarmee in Hongkong zu erbitten, um die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten, sowie im Falle von Naturkatastrophen."
Trotz der angespannten Lage sieht es im Moment nicht danach aus, dass Verwaltungschefin Lam Peking um Militäreinsätze bitten wird. Die Lage erinnert zu sehr an die monatelangen Studentenproteste 30 Jahren auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" in Peking, die dann von der Volksbefreiungsarmee am 4. Juni 1989 mit Waffengewalt brutal niedergeschlagen wurden.
Am 1. Oktober begeht China den 70. Jahrestag seiner Staatsgründung. Die Anwendung von Gewalt in Hongkong würde einen dunklen Schatten auf die Feierlichkeiten werfen.
Aber schon jetzt ist das chinesische Militär in Hongkong präsent - und zwar ganz regulär: In 14 Kasernen sind 6000 Soldaten zur Landesverteidigung stationiert.
Wer hat das letzte Wort?
Am Ende entscheidet die Führung in Peking. Chinas Staatspräsident Xi Jinping ist in Personalunion auch der Oberste Befehlshaber der Streitkräfte, also auch der der in Hongkong stationierten Soldaten. Der disziplinarische Vorgesetzte von Carrie Lam ist der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang. Egal, ob es zu einer politischen oder einer gewaltsamen Lösung des Konflikts kommen wird - beides kann es nur mit Zustimmung der Zentralregierung geben.
Warum wirft China den USA und Großbritannien Einmischung vor?
Chinas staatlich gelenkte Medien veröffentlichten ein Foto, das eine Diplomatin des US-Generalkonsulats in Hongkong mit Oppositionsführern zeigt. Weitere Fotos zeigen Demonstranten mit einer US-Flagge in den Händen. Offenbar ist es für Peking Beweis genug, die USA als Drahtzieher der Proteste darzustellen, obwohl sich dieselbe Diplomatin auch mit chinafreundlichen Politikern getroffen hat.
"Einmischung in die inneren Angelegenheiten" wirft das Außenministerium in Peking auch Großbritannien vor. Nach der Rückkehr Hongkongs zu China erstattet die britische Regierung dem Parlament in London regelmäßig Bericht: Alle sechs Monate kommt vom britischen Außenministerium eine Einschätzung zur Lage in der Ex-Kronkolonie.
Auf der anderen Seite haben die Social-Media-Giganten Twitter und Facebook Mitte August tausende Accounts gesperrt, die möglicherweise von China gesteuert wurden und auf denen Hongkongs Protestbewegung schlecht gemacht wurde.
Was passiert am 30. Juni 2047?
Gucken wir mal in die Glaskugel!
Der einzige funktionierende Ausweg aus der aktuellen Krise jetzt scheint allein eine politische Lösung zu sein. Das muss eine Lösung sein, die sowohl von der chinesischen Führung als auch von den politischen Parteien in Hongkong akzeptiert wird.
Wenn sie jetzt gelänge, wäre Hongkong auch 50 Jahre nach seiner Commonwealth-Zeit weiterhin eine Sonderverwaltungszone, die hohe Autonomie genießt und vielleicht sogar den Verwaltungschef und das Parlament direkt wählt.
Setzen sich China und die pekingtreuen Kräfte in der Metropole durch, dann ist der Status ab 2047 offen. Sollte der Sozialismus eingeführt werden, müsste alles in Hongkong verstaatlicht werden. Ein Prozess, den die Welt bisher noch nicht kannte.