"Was hätte ich denn sehen sollen?"
5. Dezember 2023„Was hätte ich denn sehen sollen?“
Der blinde Mann, der seinen Kolleg*innen die Augen öffnete
Herr Dorner(1) betreute schon viele Jahre die Telefonzentrale des Hauses, in dem ich damals gearbeitet habe. Ein geräumiger Bereich mit Glaswänden am Haupteingang war sein Büro. Hier bediente er von einem großen Ledersessel aus die imposante Telefonanlage. Still und bunt blinkten die vielen Geräte, die ihn umgaben. Ich hätte gerne verstanden, wie die einzelnen Apparate funktionieren. (1 Alle Namen sind in diesem Artikel geändert)
Um den Haupteingang von der Straße aus zu erreichen, musste man mehrere Treppenstufen abwärts gehen. Dann stand man am Ende der Treppe vor dem Schalter von Herrn Dorner. Er nahm jeden von uns wahr, wenn wir, die Mitarbeitenden, morgens ins Haus strömten. Jedoch nicht mit seinen Augen, denn er war von Geburt an blind. Er identifizierte uns durch die Art und Weise, wie wir die Treppe herunterkamen. Vor allem aber war ihm jede einzelne Stimme der 96 Mitarbeitenden vertraut. Es war für uns selbstverständlich, dass er uns immer mit Namen begrüßte, manchmal sogar, bevor wir uns stimmlich bemerkbar gemacht hatten. Mit der Zeit erstaunte es uns nicht mehr.
Eines Morgens rannte ein Kollege die Treppe hinab. Er hatte es besonders eilig und übersprang die eine oder andere Stufe. Am Ende bewältigte er sogar drei Stufen mit einem großen Satz. Er war selbst über diese Leistung so überrascht, dass er trotz der Eile für einen Moment stoppte. Er blickte erstaunt auf die übersprungenen Stufen zurück und sagte: „Herr Dorner, haben Sie das gesehen?“ Darauf fragte der Angesprochene nach kurzer Verzögerung lächelnd zurück: „Was hätte ich denn sehen sollen, Herr Trachsler?“
Ja, was hätte der blinde Mann sehen sollen? Oder besser gesagt: Überforderten wir den Kollegen mittlerweile mit unseren Erwartungen an ihn? In unserer Zeit erbringen Menschen mit Behinderungen unvorstellbare Leistungen. Blinde spielen Fußball, Gehörlose tanzen im Rhythmus der Musik. Bei Olympischen Spielen zeigen Menschen mit Behinderungen sportliche Höchstleistungen. Die Behinderung scheint nicht mehr in jedem Fall eine Einschränkung zu bedeuten. Sinne können gezielt und mit Erfolg so trainiert werden, dass sie die geschädigten kompensieren. Technische Geräte helfen, sportliche Aktivitäten wahrzunehmen, die noch vor wenigen Jahren außerhalb des Möglichen lagen. Ein Leben mit Behinderung kann mental so aufgefangen werden, dass man sich positiv auf das Leben einstellt.
Schon damals staunte ich über vieles, was Herr Dorner erzählte: Er wisse genau, wie eine Blumenwiese, ein Feuer oder der blaue Himmel aussieht. Er hatte den Sinn für das entwickelt, was die Schönheit des Alltags ausmacht, auch ohne die Sehkraft einsetzen zu können. Es faszinierte mich, wie frei und sicher er sich innerhalb des großen Bürogebäudes bewegte. Allein im Erdgeschoss waren viele Treppen zu bewältigen. Ich bilde mir ein, dass Herr Dorner es sicher nicht abgelehnt hätte, wenn wir ihm gelegentlich angeboten hätten, ihn zu führen. Aber die Notwendigkeit dazu ergab sich nie, denn nichts deutete darauf hin, dass er sich unsicher fühlte. Er war mit seinem Stock genau so schnell wie alle anderen unterwegs.
Nach dem Erlebnis mit dem Kollegen Trachsler habe ich mich allerdings gefragt, ob wir vielleicht zu oft übersehen haben, dass Herr Dorner blind war. Wussten wir, wie sehr oder wie wenig sein Handicap ihn beeinträchtigt? Ich erinnere mich, dass er in einem Gespräch erzählt hat: Er war einmal in eine Grube am Straßenrand gefallen. Das war eine kritische Situation und hätte ihn beinahe das Leben gekostet. Natürlich kann ich auch als Sehender in eine Grube fallen. Aber die Gefahr für ihn als Blinder ist größer.
„Was hätte ich denn sehen sollen?“ Mit dieser Frage und seinem Lächeln machte Herr Dorner klar: Schön, dass mein Handicap hier für alle keine Rolle spielt. Aber es ist eben doch da und hat seine Besonderheiten. Wir sind gleichberechtigte Kollegen, aber eben nicht gleich. Es geht darum, mit unserer Gleichheit und Unterschiedlichkeit selbstverständlich und achtsam umzugehen. Der blinde Kollege hat uns Sehenden dafür wieder einmal die Augen geöffnet.
Jean-Felix Belinga Belinga
Zum Autor:
1956 in Südkamerun geboren und aufgewachsen
Autor, Journalist, Pfarrer und interkultureller Trainer
Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen (Bayern)
Verheiratet, Vater von drei erwachsenen Kindern, Großvater von vier Enkelkindern
Im Ruhestand
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