Was die Armenier auf die Straße treibt
3. Mai 2018Welche Ursachen hat der Konflikt?
Der Protest gegen Vetternwirtschaft und Korruption hat in Armenien Hunderttausende Regierungsgegner auf die Straße getrieben. Im Zentrum der Demonstrationen stand zunächst der langjährige Staatspräsident Sersch Sargsjan, dem seine Gegner vorwerfen, zum Langzeitherrscher des Drei-Millionen-Einwohner-Staats werden zu wollen. Zudem habe er mächtigen Oligarchen die Kontrolle über die armenische Wirtschaft ermöglicht.
Von 2008 bis 2018 bestimmte der heute 63-Jährige als Staatspräsident die Geschicke des Landes. Nach zwei Amtszeiten hätte Sargsjan 2019 nicht erneut kandidieren dürfen - und so wählte das armenische Parlament am 2. März mit großer Mehrheit Armen Sarkissjan zu seinem Nachfolger.
Doch Sarkissjan wird in den kommenden sieben Jahren wohl kaum eine ähnlich dominierende Stellung in Armenien erreichen können wie sein Vorgänger - ein Umbau der politischen Institutionen hat das Amt des Staatspräsidenten geschwächt. Die Republik ist auf dem Weg von einem semi-präsidentiellen zu einem parlamentarischen System, in dem der Staatspräsident vor allem repräsentative Aufgaben übernimmt und der Ministerpräsident mit größerer Machtfülle ausgestattet ist.
Welchen Plan verfolgte der Präsident?
Während seiner Amtszeit als Staatspräsident hatte Sersch Sargsjan ausgeschlossen, nach dem Ende seiner Amtszeit an führender Stelle weiterhin politische Verantwortung zu übernehmen. Trotzdem stellte sich Sargsjan nach den Parlamentswahlen im April 2018 als Kandidat für das Amt des nunmehr einflussreicheren Regierungschefs zur Verfügung.
Sargsjans Partei hatte bei den Wahlen mit 49 Prozent der Stimmen eine deutliche Mehrheit erhalten - die Abgeordneten wählten den früheren Präsidenten am 17. April mit großer Mehrheit zum neuen Ministerpräsidenten.
Was kritisiert die Opposition?
Obwohl es an der formalen Rechtmäßigkeit der Wahl des Kreml-nahen Sargsjans zum Regierungschef keine Zweifel gab, formierte sich im Land eine große Protestbewegung gegen den Langzeitherrscher. Bereits nach den Parlamentswahlen war die Opposition auf die Straße gegangen, um gegen Wahlbetrug zu protestieren - auch ausländische Beobachter formulierten Bedenken hinsichtlich der Einhaltung demokratischer Standards. Nach der Wahl Sargsjans zum Ministerpräsidenten mobilisierten die Proteste immer größere Teile der Bevölkerung.
Als Anführer der Demonstrationen etablierte sich der 42 Jahre alte Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan, der im Laufe der Proteste vorübergehend festgenommen worden war. Innerhalb weniger Tage gelang es ihm, Hunderttausende Armenier auf die Straße zu bringen, um gegen Sargsjan und die Regierungspartei zu demonstrieren.
Unter dem Eindruck dieser Proteste trat Sersch Sargsjan am 23. April, sechs Tage nach seiner Wahl zum Regierungschef, vom Amt des Ministerpräsidenten zurück. Auf seiner Website verkündete er den Entschluss mit den Worten: "Ich hatte Unrecht, und Nikol Paschinjan hatte Recht."
Unmittelbar zuvor waren Berichte bekannt geworden, dass sich auch Soldaten und Polizisten den Protesten angeschlossen hatten. Karen Karapetjan, Sargsjans Vorgänger im Amte des Regierungschefs, übernahm kommissarisch sein früheres Amt.
Wie geht es weiter?
Am 1. Mai scheiterte die Wahl eines neuen Regierungschefs im armenischen Parlament, da Oppositionsführer Nikol Paschinjan mit 45 Stimmen die erforderliche Stimmenmehrheit von 53 Stimmen deutlich verfehlte.
Der Parlamentspräsident hat für den 8. Mai einen zweiten Wahlgang angeordnet - Paschinjan äußerte sich zuletzt zuversichtlich, dann eine Mehrheit auf sich vereinen zu können. Sollte auch dieser Wahlgang scheitern, wären Neuwahlen die Folge. In den Tagen zwischen den Wahlgängen rief die Opposition das Volk zwischenzeitlich zur "totalen Blockade" des Landes auf.
Welche überregionale Rolle haben die Proteste?
In der internationalen Presse werden die Proteste in Armenien als "Samtene Revolution" bezeichnet. Gut vier Jahre nach den Maidan-Protesten in der Ukraine gärt es damit wieder in einem Land, das Russlands Präsident Wladimir Putin zu seinem engsten Einflussbereich zählt. Unter Präsident Sargsjan war Armenien der von Moskau dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion beigetreten. Offiziell kommentiert Moskau das mutmaßliche Ende der Ära Sargsjan zurückhaltend, aber betrachtet die Lage in Eriwan wohl mit Argwohn.
Sargsjan hatte in seiner Amtszeit nicht nur die Nähe zu Putin gesucht, sondern auch mit Brüssel über eine Partnerschaft verhandelt. Die Partei des liberalen Oppositionsführer Paschinjan hat angekündigt, Verhandlungen mit der EU über ein Freihandelsabkommen neu aufnehmen zu wollen. Paschinjan selbst hat bislang einen Bruch mit Moskau strikt abgelehnt. Eine Abkehr von Moskau würde auch in der Bevölkerung auf geringe Zustimmung stoßen. Die armenische Wirtschaft ist von Russland abhängig, die Gesellschaft gilt als russlandverbunden. Zudem ist der orthodox-christliche Staat von zwei potentiellen Feinden umgeben: Im Südosten führt Aserbaidschan seit einem Vierteljahrhundert einen Dauerkonflikt um die Region Berg-Karabach und im Westen liegt der langjährige Erzfeind Türkei.