Warum teilen und tauschen wir?
9. Juni 2016In Helsinki bietet eine Online-Plattform all jenen Hilfe, denen das Leben gerade über den Kopf wächst. Bezahlt wird die gewünschte Hilfe oder Entlastung nicht mit Geld, sondern mit Zeit. Tommi beispielsweise braucht psychische Unterstützung. Die erhält er von Tina. Die belastet Tommis Zeitkonto mit der Zahl der gemeinsam verbrachten Stunden und lässt sich für ihr Guthaben von einem anderen Mitglied der Community gelegentlich massieren. Tommi hingegen arbeitet sein Minus ab, indem er hier ein Fahrrad repariert und dort einen Keller ausräumt. Das nennt sich "Time-Banking" und es funktioniert - mit garantiertem Datenschutz. Jede Anfrage wird anonymisiert.
"Sharing Ideas": gemeinsam, miteinander
Die indonesische Metropole Surabaya erstickt am Verkehrsaufkommen. Millionen von Autos sind täglich unterwegs, in den meisten sitzt nur eine Person. Eine Website führt mittlerweile 80.000 Menschen zu Fahrgemeinschaften zusammen und bricht nebenbei auch die Vereinzelung in der Stadt auf.
In Weimar haben Architekturstudenten in zehn Wochen ein temporäres Haus gebaut, für das keine Kosten angefallen sind. Verarbeitet wurde ausschließlich, was andere loswerden wollten - Planen, alte Fenster, Bretter, Kisten. Gewonnen haben dabei alle: die Studenten Erfahrungen, die Materialspender Platz, und die Stadt für zehn Wochen einen ganz besonderen Treffpunkt.
Dies sind nur drei von viel mehr "Sharing Ideas", die im Rahmen des Kultursymposiums "Teilen und Tauschen" vorgestellt und diskutiert wurden. Das Goethe-Institut hatte rund 500 internationale Gäste aus Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik nach Weimar geladen, um das Tauschen und Teilen in aller Welt zu untersuchen und, um daraus Erkenntnisse für die Zukunft unseres Zusammenlebens zu gewinnen.
Jeremy Rifkin hält Auftaktrede beim Kultursymposium Weimar
Denn, so mahnte der amerikanische Ökonom und Bestsellerautor Jeremy Rifkin zum Auftakt, sowohl der Klimawandel als auch das drastische Wohlstandsgefälle in der Welt zwängen die Menschheit zum Umdenken. Die Richtung ist für Rifkin klar: Seine Vision des Zusammenlebens heißt "Sharing Economy". Die Digitalisierung soll es möglich machen, dass nicht mehr Märkte unser Leben bestimmen, sondern die Teilhabe an globalen Allgemeingütern.
Für jede Straße nur ein paar Autos, die man sich teilt, Spielwaren, die nicht gekauft, sondern nur für die Zeit, da sie von Interesse sind, online ausgeborgt werden - und so weiter und so fort. Rifkin hat in Weimar einen bemerkenswerten Auftritt hingelegt. Im vollbesetzten Hörsaal der Bauhaus-Universität spricht er eine ganze Stunde lang frei, ist gleichermaßen Showmaster wie Visionär. Dann geht er ab, ohne Diskussion, zum Flughafen, zum nächsten Termin. Den Gästen des Symposiums verbleiben rund 70 Veranstaltungen.
"Sharing Ecomomy": viele Perspektiven, viele Fragen
An allen Diskussionen, Vorträgen und künstlerischen Interventionen teilnehmen kann niemand. So lässt man sich treiben, von der Bauhaus-Uni zur Notenbank, ins Goethe-Nationalmuseum und durch den Park an der Ilm zum Festival-Zentrum in einem ehemaligen Elektrizitätswerk-Werk. Hier tagt man in der Maschinenhalle und in Kinosälen. Unter dem schützenden Dach vierer Tipis wird gemeinsam gegessen und geredet. Jede Veranstaltung stellt andere Fragen und eröffnet neue Facetten des Themas "Teilen und Tauschen": Was teilen wir, wenn wir lieben? Was heißt es überhaupt, etwas zu teilen? Wie verändert die "Sharing Economy" den Arbeitsmarkt? Wie passen Wissensaustausch und geistiges Eigentum zusammen? Und warum kaufen wir unentwegt ein, obwohl wir doch längst alles haben?
Unter dem Titel "Shared Heritage - geteiltes Erbe" ging es um einen zeitgemäßen Umgang mit den reichen außereuropäischen Sammlungen der Staatlichen Museen Berlins - Sammlungen aus der Kolonialzeit. Es diskutierten Neil MacGregor, Gründungsdirektor des Berliner Humboldt Forums, Helmut Parzinger, Präsident der Berliner Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel und Klaus-Dieter Lehmann, der Präsident des Goethe-Instituts. Intensive anderthalb Stunden waren das, in denen erneut deutlich wurde, wie groß die Herausforderungen im Umgang mit dem kolonialen Erbe sind.
Heute, so der Tenor, müsse man nicht nur die Objekte ausstellen, sondern auch die Geschichten, die sie in sich tragen. Man müsse sich des Erbes bewusst sein, um die eigene Geschichte zu verstehen. Und: Man will es mit der Welt teilen, um andere an dieser Geschichte teilhaben zu lassen, um ihnen womöglich die eigene Geschichte zurück zu geben. Das ethnologische Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln, erzählt Klaus-Dieter Lehmann, habe vor einigen Jahren eine Benin-Sammlung in Brasilien gezeigt. Brasilianer, deren Vorfahren aus Afrika stammen, hätten dort erstmals gesehen, welche kulturelle Wurzeln sie haben. Die Ausstellung wurde zu einem unglaublichen Erfolg.
Die Grenzen des Teilens
Teilen ist eine Tugend und der Egoismus ihr natürlicher Feind. Das konnte man in Weimar bei einem herrlichen multimedialen Spiel einmal mehr erfahren: Bei "Being Faust – Enter Mephisto" haben die Teilnehmer mit schönster Selbstverständlichkeit ihre Freunde für die eigene Zufriedenheit verkauft. Und der Conférencier, der sie dazu wortgewandt angestachelt hat, wird sich insgeheim böse ins Fäustchen gelacht haben.
Weimar ist eine Stadt, die ihr reiches kulturelles Erbe gerne mit zahlreichen Besuchern teilt. Aber die Lust am Teilen hat Grenzen. "Keinen (Quadrat) Meter für Rassisten", fordert ein Plakat an einem Gebäude in der Innenstadt. Man teilt eben nicht gerne alles mit jedem. Nicht die persönlichen Daten mit Geheimdiensten oder Branchen-Riesen wie Google oder Facebook. Auch darüber wurde bei diesem Symposium gesprochen. Und darüber, dass in vielen Ländern der Welt der Fortschritt behindert wird, weil es Mächtige gibt, die an ihm mitverdienen wollen. Korruption ist ein gewaltiges Hindernis für soziales Wohlergehen, Korruption lähmt die Entwicklung nicht nur in den Ländern Afrikas.
Kultursymposium Weimar: Festivalatmosphäre trotz ernster Themen
Abends wurde gefeiert, zwischendurch gelacht. Eine beschwingte Festivalatmosphäre griff in diesen Tagen um sich, man wurde schnell Teil einer internationalen Gemeinschaft. Das war schön. Und kostbar. Aber die Probleme sind dabei nicht kleiner geworden. Alle, die in Weimar dabei waren, haben ihnen nur ins Gesicht gesehen. Und wieder einmal begriffen, dass gehandelt werden muss.