Warum Buchhandlungen in Berlin florieren
17. Dezember 2016Wenn ich in Berlin mit der Bahn fahre, bin ich oft erstaunt, wie viele Menschen dort Bücher lesen. In anderen Städten scheinen die Bahnpendler heutzutage in stiller Übereinkunft auf ihre Smartphones zu starren. Liegt das vielleicht an einer gewissen Technologie-Verachtung der deutschen Hauptstädter? Oder weil - gleich nach Geldgeschenken - Bücher zu den beliebtesten Weihnachtsgeschenken in Deutschland zählen?
Während der Online-Riese Amazon in Großbritannien in den letzten zehn Jahren dafür gesorgt hat, dass ungefähr ein Drittel unabhängiger Buchhandlungen schließen musste, scheint diese wachsende Bedrohung durch Versandhandel und Buchhandlungsketten Berlin weniger zu tangieren. Dort findet eine wahre analoge Lese-Renaissance statt. Derzeit öffnen sogar mehr inhabergeführte Buchhandlungen als geschlossen werden. Das Sortiment dieser Läden zeichnet sich auch durch unkonventionelle Literatur aus. Bestseller sucht man hier vergebens.
Bücher als sinnvoller Zeitvertreib
Dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels zufolge ist die Anzahl unabhängiger, kleiner Buchhandlungen in Berlin zwischen 2011 und 2016 von 299 auf 352 angestiegen. Sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene ist das beispiellos. "Während in vielen deutschen Städten die verlassenen Innenstädte zu buchfreien Zonen werden", kommentierte die Vereinigung des Buchhandels, "hat sich in Berlin eine lebendige Szene junger, inhabergeführter Buchläden entwickelt."
Vor kurzem habe ich an einer Party zum dritten Jubiläum der Kreuzberger Buchhandlung "Zabriskie" teilgenommen, die sich Büchern und Zeitschriften über Kultur und Natur sowie Themen wie utopische Gesellschaften, Gegenkultur und Avantgarde widmet. Kurz vor Mitternacht war der kleine Laden voller Menschen, die Geschichten und Bücher miteinander teilten oder zur Musik des DJs getanzt haben. Eine Community, geschaffen durch einen persönlichen Dialog, der online so nicht stattfinden könnte.
Die Mitbegründerin von "Zabriskie", Lorena Carràs, erzählte im DW-Interview, einige Freunde hätten Zweifel gehabt, als sie und ihr Partner Jean-Marie Dhur sich 2013 dazu entschieden, den Laden zu eröffnen. Sie hätten sich von Anfang an auf liebevoll gestaltete Titel kleiner Verlage konzentriert, von denen viele aus Berlin stammen.
Ökosystem für Bücherfreunde
Doch der Buchladen "Zabriskie" hat sich zu einem Ökosystem lokaler Literatur entwickelt. Hier kann das gedruckte Buch gedeihen: durch regelmäßige Lesungen, durch Konzerte und geführte Spaziergänge in der städtischen Natur, Startpunkt der Laden. Carràs gibt allerdings gern zu, dass eine kleine Buchhandlung wie das "Zabriskie" ohne gesetzliche Buchpreisbindung nicht wettbewerbsfähig wäre.
Sie sorgt dafür, dass jede Buchhandlung in Deutschland, und auch Online-Giganten wie Amazon, den gleichen Buchpreis berechnen müssen. Das bedeutet, dass anders als in England oder den USA große Buchhandelsketten und Online-Händler keine Rabatte geben und damit kleine, lokale Buchhändler nicht unterbieten können. Erst antiquarische Bücher dürfen reduziert angeboten werden.
"Verlasse deinen Algorithmus"
Besucher des Buchladens "Hundt, Hammer, Stein" in Berlin-Mitte werden mit Schildern begrüßt, auf denen steht "Sie verlassen jetzt die Amazone" ("you are leaving the Amazone") oder "Verlasse deinen Algorithmus, stöber offline" ("leave your algorithm, browse offline"), bevor es über einige Stufen hinunter in einen gemütlichen Buch-Keller geht, in dem eine sorgfältig kuratierte Auswahl deutscher und englischer Literatur dargeboten wird.
Besitzer Kurt von Hammerstein sagt - nicht ohne eine Portion Schadenfreude -, dass die großen Ketten, die einst in den 1990er-Jahren unabhängige Buchhandlungen dezimiert hätten, nun durch ihre eigene Konkurrenzsituation mit Amazon dazu gezwungen werden, immer mehr Filialen in Deutschland zu schließen. Das hat fruchtbaren Boden für innovative, unabhängige Buchhändler hinterlassen.
Mit seiner Eröffnung im Jahre 2004 zählt "Hundt, Hammer, Stein" zu den ältesten Läden der Straße. Überlebt hat er durch die Loyaliltät seiner Kunden, aber auch durch das politische Bewusstsein seiner Buchkäufer. "Eine sehr große kritische Masse" besorgter Berliner, sagt Hammerstein, weigere sich, Großhändler wie Amazon, die ihre Arbeiter schlecht bezahlen und Steuern unterschlagen, zu unterstützen.
Treue Kunden und Autoren
Ana S. Pareja, Mitbegründerin von Bartleby & Co, einem spanischsprachigen Buchladen in Berlin-Kreuzberg, spricht auch von dem "politischen Gewissen", das dafür sorge, dass ihre Klientel an loyalen und treuen Kunden "den Reichtum und die Wichtigkeit eines einheimischen Geschäftes wie diesem versteht."
Diese Loyalität sollte sich auf Autoren ausweiten, bemerkt Maria-Christina Piwowarski, Managerin von Ocelot, einem geräumigen Buchladen mit Café und Lese-Lounge, der 2012 eröffnet hat. Im Februar dieses Jahres schrieb sie eine berüchtigte "Schimpftirade", wie sie es nennt, über Autoren, die ihre Werke mit Amazon in Verbindung bringen statt mit Buchhandlungen, die für sie werben. Sie denkt außerdem, dass Buchhändler durch "persönliche Empfehlungen" und "direkte Kundengespräche" Amazons "uninspirierten Algorithmus" nicht als echte Konkurrenz ansehen sollten.
Im unabhängigen Zeitschriften- und Buchladen "Do You Read Me?!" zieht eine Sammlung von Fachzeitschriften für Kunst, Architektur und Literatur ganze Legionen von Stammkunden an. Während sie einen Wagen voller Bücher in den kompakten, vollgestellten Buchladen in Berlin-Mitte schiebt, erzählt Mitinhaberin Jessica Reitz, dass niemand mit dieser Tätigkeit reich werde und der Online-Wettbewerb leider weiter zunehme.
Aber die Zeiten seien relativ gut. Wenn zufriedene Kunden den Laden von "Do You Read Me?!" mit Büchern aus aller Welt verlassen, sei es gut zu wissen, dass viele davon Weihnachten ausgepackt und anschließend genussvoll auf der Zugfahrt nach Hause gelesen werden. Da sei viel Zukunft drin.