Warum stoppt Putin Turkish Stream nicht?
1. Dezember 2015Moskau hat als Antwort auf den Abschuss einer russischen Militärmaschine durch die türkische Luftwaffe einen Wirtschaftskrieg gegen die Türkei entfacht. Die Sanktionen betreffen hauptsächlich den Tourismus, Logistik - vor allem im Luftverkehr -, die Baubranche, Lebensmittellieferungen und weitere Handelsbeziehungen. Unter den Maßnahmen werden auch russische Konsumenten, Produzenten und Dienstleister leiden. Gleichzeitig jedoch zögert der Kreml mit einer Entscheidung, die dem staatlichen Energiekonzern Gazprom unrentable Milliardeninvestitionen ersparen könnte.
Ein geopolitischer Deal mit Erdogan
Gemeint ist die Gaspipeline Turkish Stream, die Wladimir Putin vor einem Jahr, am 1. Dezember 2014, buchstäblich aus dem Hut zauberte. Es geschah in Ankara, wo der russische Präsident mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan verhandelte. Nach diesem Gespräch verkündete der Kremlchef völlig unerwartet das Ende des internationalen South-Stream-Projekts. Diese Pipeline sollte sibirisches Gas durch das Schwarze Meer und dann über Bulgarien in zahlreiche Länder Südost- und Mitteleuropas liefern, verstieß aber gegen einige Normen der EU.
Statt eine einvernehmliche Lösung des Problems auf dem Verhandlungsweg zu suchen, sagte Putin das Milliardenprojekt einfach ab - und trumpfte sofort mit einem Gegenprojekt gleicher Größenordnung auf, das bald darauf den Namen Turkish Stream bekam. Die Idee dahinter: Die Pipeline aus vier Strängen überquert zwar auch das Schwarze Meer, geht aber nicht in Bulgarien sondern in der Türkei an Land. Sie endet an der türkisch-griechischen Grenze. Von dort sollen die europäischen Importeure das bestellte russische Gas selbst abholen.
Verhandlungen mit Griechenland
Das Ganze war anscheinend eine spontane emotionale Entscheidung des russischen Präsidenten, der sich durch die EU beleidigt fühlte, denn sie war nicht besonders gut durchdacht. An der türkisch-griechischen Grenze gibt es weit und breit keine Infrastruktur, die solche Mengen russischen Gases aufnehmen und weiterleiten könnte. Das Kalkül, die Europäer würden sofort entsprechende Pipelines verlegen, ging nicht auf. So begann Moskau bereits im Frühjahr 2015 fieberhaft nach einem Ausweg aus der sich anbahnenden Sackgasse zu suchen.
Nach spektakulären Verhandlungen zwischen Wladimir Putin und dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras kam es am 19. Juni 2015 zum Vertrag über den Bau einer Verlängerungspipeline zur Turkish Stream in Griechenland - für russisches Geld, wohlgemerkt. Es kann aber durchaus sein, dass dieses Dokument schon am selben Tag nur noch Makulatur war.
Nord Stream 2 nimmt an Fahrt auf
Denn gleichzeitig verkündete Moskau den Einstieg in ein weiteres Pipelineprojekt: Nord Stream 2. Es sieht die Verdopplung der Kapazitäten der Gasleitung zwischen Russland und Deutschland in der Ostsee vor - durch den Bau zweier neuer Stränge. Knapp drei Wochen später stoppte Gazprom den Bau einer Pipeline in Russland, die Gas aus Sibirien ans Schwarze Meer für die Turkish Stream anliefern sollte. Durch diese Entscheidung ist die geplante Auslastung der griechischen Leitung gar nicht mehr möglich.
Während das Nord-Stream-2-Projekt also eindeutig an Fahrt aufnahm - Verhandlungen mit deutschen Politikern und Vertragsunterzeichnung zwischen Gazprom und fünf europäischen Firmen -, dümpelte Turkish Stream weiter vor sich hin, obwohl die Verlegung längst hätte beginnen müssen. Moskau versuchte lange, diesen Hänger damit zu erklären, dass in Ankara keine Regierungsmehrheit zustande gekommen sei und man die Neuwahlen am 1. November abwarten musste.
Unwilliger türkischer Partner
Aufmerksamen Beobachtern war zu dieser Zeit bereits klar: Präsident Erdogan, der zweite autoritäre Pate dieses Projektes, hat das Interesse daran verloren. Er will türkisches Territorium nicht mehr für den Transit von russischem Gas zur Verfügung stellen und scheint höchstens dazu bereit, einen einzigen Strang der Turkish Stream für die Belieferung der westlichen Teile seines Landes zu genehmigen.
Diese Variante ist für Gazprom die Schlechteste. Die Wirtschaftlichkeit der Turkish Stream wurde von Experten von Anfang an in Frage gestellt. Aber die Verlegung eines einzigen Stranges ist definitiv ein Verlustgeschäft, weil alle Vorarbeiten trotzdem bezahlt und die ganze Infrastruktur trotzdem errichtet werden muss. Es wäre also jetzt, da Russland der Türkei den Wirtschaftskrieg erklärt hat, der optimale Zeitpunkt, sich ohne großen Gesichtsverlust aus diesem gescheiterten Projekt endgültig zu verabschieden.
Trotzdem zögert der Kreml, der alle für Gazprom relevanten Grundsatzentscheidungen trifft. Warum? Vielleicht will Putin das existenziell wichtige Gasgeschäft aus allen Konflikten heraushalten, so wie er das auch in den Beziehungen mit der EU tut.
Vielleicht ist er aber auch bereit, nur einen Strang der Turkish Stream zu bauen - ohne Rücksicht auf Verluste. Zusammen mit der Nord Stream 2 würde das dem russischen Präsidenten ermöglichen, sein geopolitisches Hauptziel zu erreichen: den Transit russischen Gases durch die Ukraine endgültig zu beenden. Denn mit der Ukraine ist Russland auch im Wirtschaftskrieg - in einem noch viel größeren als mit der Türkei.