Warum Ruanda Flüchtlinge willkommen heißt
20. Dezember 2023Der deutsche Oppositionspolitiker Jens Spahn von der Mitte-Rechts-Partei CDU hat in einem Zeitungsinterview mal wieder eine nicht ganz neue Idee ins Spiel gebracht: Deutschland könnte Migranten nach Ruanda schicken, wo sie ein Asylverfahren bekämen - ähnlich wie das etwa Großbritannien vorgeschlagen hat. Die Antwort von Regierungsseite kam prompt: "Kindlich naiv" nannte Außenministerin Annalena Baerbock die Idee am Montag während eines Besuchs in Ruanda.
Aber der Vorschlag zeigt einmal mehr, wie sich die Idee zunehmend verfestigt, Aufnahmeverfahren für Asylsuchende aus Europa auszulagern. Und er belegt Ruandas erfolgreiche Bemühungen, sich als sicherer Hafen für Asylsuchende zu inszenieren. Aber wie ist die Situation im Land wirklich? Ein Überblick.
Wie funktioniert Ruandas Regierung?
Seit 2000 heißt Ruandas Präsident Paul Kagame. De facto regieren er und seine Ruandische Patriotische Front (RPF) das kleine ostafrikanische Land seit dem Ende des Völkermords von 1994. Auf dem Papier ist Ruanda eine Mehrparteien-Demokratie. Doch politische Beobachter wie auch die US-Entwicklungsagentur USAID weisen darauf hin, dass eine Opposition "nicht vorhanden" sei.
Dreimal schon haben Ruanderinnen und Ruander Kagame zum Präsidenten gewählt. Die jüngste Wahl gewann er 2017 mit 99 Prozent der Stimmen. Jedes Mal gab es ernst zu nehmende Kritik: Die Rede war von Wahlfälschung und Einschüchterung.
Das Projekt "Varieties of Democracy", eine internationale Datenplattform zu Demokratie, stuft Ruanda als "Wahlautokratie" ein. Beim "Freedom in the World"-Bericht von 2023 bekommt das Land nur acht von 40 möglichen Punkten in der Kategorie politische Rechte.
Welche Rechte und Freiheiten haben Menschen in Ruanda?
Ruanda hat internationale und regionale Menschenrechtsverträge unterzeichnet, diese sind auch in seine Verfassung und nationale Gesetze eingeflossen. Aber Beobachter haben immer wieder schwerwiegende Menschenrechtsprobleme in Ruanda festgestellt. Sie berichten von außergerichtlichen Hinrichtungen, Folter und dem Verschwinden von Systemkritikern.
Auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist de facto eingeschränkt. Durch die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen herrscht eine "Kultur der Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen", wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch feststellt. Und die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) setzt Ruanda in ihrem aktuellen Pressefreiheitsindex nur auf Platz 131 von 180. Begründung: "Von Jahrzehnten der Unterdrückung gebeutelt, ist die ruandische Medienlandschaft eine der ärmsten in Afrika."
Ist Ruanda wirtschaftlich erfolgreich?
Paul Kagame übernahm 1994 ein Land, das von 100 Tagen Gewalt zerrissen war: Während des Völkermords waren eine Million ethnische Tutsi und moderate Hutu ermordet worden. Auch die Wirtschaft lag danach am Boden. Diese stützt sich bis heute auf Selbstversorgung in der Landwirtschaft. Nennenswerte Rohstoffvorkommen hat das "Land der tausend Hügel" im Gegensatz zu einigen Nachbarländern nicht.
Dennoch gelang es Kagame mit seinem Reformwillen, dem Land wirtschaftliches Wachstum zu bringen und - der Weltbank zufolge - "bedeutende Verbesserungen" der Lebensbedingungen zu erzielen. Das Bruttoinlandsprodukt ist zwischen 2000 und 2020 um 142 Prozent angewachsen. 2016/2017 lebten nur noch 52 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die Mütter- und Säuglingssterblichkeit ist drastisch zurückgegangen. Heute sticht die Lebenserwartung in dem 13-Millionen-Einwohner-Land als eine der höchsten in Subsahara-Afrika heraus.
Daneben zählt Ruanda heute zu den am wenigsten korrupten Ländern Afrikas. Als guter Standort, um Geschäfte zu machen, belegt das Land den zweiten Platz auf dem Kontinent. In der internationalen Rangfolge hat Ruanda im vergangenen Jahrzehnt 100 Plätze gutgemacht.
Mit Blick auf private Investitionen liegt Ruanda allerdings unter dem Durchschnitt der afrikanischen Länder mit niedrigem Einkommen: Hier wirken sich der niedrige Bildungsgrad, die hohen Energiepreise und die Lage des Binnenlandes ohne direkten Zugang zum Meer negativ aus.
Warum ist Ruanda bei Geldgebern im Westen so beliebt?
Als stabiles Land mit geringer Korruption wurde Ruanda zum Liebling der Entwicklungshilfe: Jahr für Jahr empfängt es rund eine Milliarde US-Dollar (920 Millionen Euro). Kein anderes ostafrikanisches Land bekommt so hohe Pro-Kopf-Hilfen.
"Wenn man sich die sauberen Straßen und schicken Gebäude ansieht, vermittelt das Land einen Eindruck von effektiv genutzter Entwicklungshilfe", sagt Toni Haastrup, Leiterin des Fachbereichs Globale Politik an der Universität von Manchester. Doch diese Rechnung funktioniere nur, wenn man Frieden und Sicherheit, Ruandas regionale Rolle und Menschenrechte außer Acht lasse.
Wie leben Geflüchtete in Ruanda?
Fast 135.000 Flüchtlinge leben in Ruanda. Die meisten von ihnen kommen aus den Nachbarländern Burundi und der Demokratischen Republik Kongo. In Ruanda müssen sie - anders als in vielen anderen Ländern - nicht in Camps wohnen, können sich frei bewegen und dürfen arbeiten, Besitz haben, Unternehmen anmelden oder Bankkonten eröffnen.
So kommt ein aktueller Bericht von der Organisation Refugees International zu dem Schluss, dass Ruandas Flüchtlingspolitik der "wirtschaftlichen Inklusion" anderen Ländern in Ostafrika und darüber hinaus zum Vorbild dienen könne. Nichtsdestotrotz sehen sich Migranten in Ruanda Benachteiligung und Diskriminierung ausgesetzt, oft sind sie arm. Die große Mehrheit (93 Prozent) lebt in Camps und ist auf eine dürftige monatliche Hilfe von 10.000 Ruanda-Franc (7,27 Euro) angewiesen.
Das Leben in Ruanda sei hart, sagte der Burundier Kelly Nimubona der DW vergangenes Jahr: "Wir können es uns nicht leisten, zweimal täglich zu essen." Eine Arbeit zu finden, sei schier unmöglich.
Menschenrechtsorganisationen sehen neben der Armut auch Ruandas schlechte Menschenrechtslage als Problem für Geflüchtete. In Großbritannien entschied das Oberste Gericht im November, dass Asylsuchende hier nicht sicher seien.
Warum inszeniert sich Ruanda als sicherer Hafen für internationale Geflüchtete?
Für das internationale Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist Ruanda ein willkommener Partner: Erst vergangenen Monat nahm das Land ein neues Kontingent an Flüchtlingen auf, die aus den umstrittenen libyschen Auffanglagern evakuiert worden waren. Das Land hatte sich in der Vergangenheit auch bereiterklärt, abgelehnte Asylsuchende aus Israel aufzunehmen - inzwischen wurde die kontroverse Praktik gestoppt. Zu den jüngeren Partnerschaften gehören Abkommen mit Großbritannien und Dänemark, um die Aufnahme von Asylsuchenden zu prüfen. Umgesetzt wurden die Deals aber noch nicht.
Laut Yolande Makolo, Sprecherin der ruandischen Regierung, liegt die offene Flüchtlingspolitik des Landes an der ruandischen Geschichte. "Die Menschen in Ruanda wissen, was es heißt, unterwegs zu sein, vertrieben zu sein", sagte Makolo der lokalen Newsplattform KT Press zufolge im November.
Die Geopolitikerin Toni Haastrup sieht hinter Ruandas Flüchtlingspolitik hingegen eine Strategie: "Es ist ein Weg, Ruandas Ansehen in der internationalen Gemeinschaft zu erhöhen", sagt sie der DW. "Wenn Ruanda all diese Flüchtlinge für Sie aufgenommen hat, werden Sie es nicht zurechtweisen."
Adaptiert aus dem Englischen von Philipp Sandner.