Warum Millionen Menschen mehrere Jobs haben
5. Februar 2019Wenn Kerstin Schmidt (Name geändert), 43, am Freitagnachmittag von einer 40-Stunden Woche von der Arbeit kommt, kocht sie schnell für ihre beiden Söhne, zieht sich um, ruht sich vielleicht kurz aus und muss dann los zum nächsten Job. Denn die Rechstanwaltsfachangestellte arbeitet am Wochenende an der Garderobe bei Karnevalsveranstaltungen. "Ich habe seit zehn Jahren durchgängig Nebenjobs, weil das Geld nie gereicht hat, um drei Personen zu ernähren, zu kleiden, usw.", sagt Schmidt im Interview mit der DW. Für Schmidt bedeutet das oft: eine Sieben-Tage-Woche. "Ich werde gar nicht richtig wach", sagt sie während des Interviews. Aber sie sagt auch: "Ich kann es mir nicht leisten, keinen Nebenjob zu haben."
Minijobs bekommen Vergünstigungen
Schmidt gehört zu mehr als 3,4 Millionen Mehrfachbeschäftigten in Deutschland - also Menschen, die mehr als einen Job haben. Waren es im Jahr 2003 noch knapp 1,4 Millionen Mehrfachbeschäftigte, hat sich die Zahl inzwischen weit mehr als verdoppelt. Die Meisten davon haben einen Hauptberuf, bei dem Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden, und dann mindestens noch einen Nebenjob. Dieser Nebenjob ist meist ein Minijob auf 450-Euro-Basis. Die Zahlen gehen aus einer Anfrage der Linken im Bundestag zurück und beziehen sich auf Daten der Bundesagentur für Arbeit.
Die Gründe für den Minijob-Boom seien vielfältig, sagt Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Er sieht den wichtigsten Grund in der starken Begünstigung von Minijobs. "Der erste Minijob, den sie im Nebenjob ausüben, ist für den Arbeitnehmer vollständig von Steuern und Abgaben befreit. Und das ist so eine starke Subvention, dass das natürlich auch viele Menschen in Anspruch nehmen möchten." Die rechtliche Regelung macht den Minijob also für viele Arbeitnehmer attraktiv. Doch die Motive, überhaupt mehr als einer Arbeit nachzugehen, unterschieden sich. Kerstin Schmidt verdient in ihrem Job 2600 Euro brutto, am Ende bleiben ihr rund 1650 Euro zum Leben - die Hälfte davon gehe allein für die Miete drauf, sagt sie. Unterhalt für ihre beiden Söhne habe sie nie bekommen, daher musste immer ein zweiter oder dritter Job her - als Kellnerin, Kassiererin oder in anderen Servicebereichen. "Dabei ging es nie um Luxus, ums Sparen oder Urlaub, sondern um Geld zum Überleben", sagt Schmidt.
Wie viele Menschen in Deutschland aus purer finanzieller Not mehreren Beschäftigungen nachgehen, lasse sich kaum beziffern, sagt Weber. "Im Durchschnitt sehen wir aber, dass Nebenjobber in ihrem Hauptjob deutlich weniger verdienen als andere Menschen, die keinen Nebenjob haben", so der Experte. "Das waren in unserer Auswertung immerhin 570 Euro pro Monat. Das deutet schon darauf hin, dass relativ viele Menschen auf dieses zusätzliche Geld angewiesen sind." Mehr als vier Millionen Vollzeitbeschäftigte arbeiten in Deutschland für einen Niedriglohn - also rund jeder Fünfte. Sie verdienen weniger als 2200 Euro brutto pro Monat.
Vor allem Menschen, die in Dienstleistungsberufen arbeiten, im Bereich Erziehung, Gesundheit oder Soziales oder in Verwaltungsberufen, gingen häufig mehr als einer Beschäftigung nach, sagt Weber. Im Gastgewerbe, in der Erholungsbranche oder im Einzelhandel verdienen sie sich wenige Hundert Euro im Monat dazu.
Mehrere Jobs für mehr Abwechslung
Doch pauschal zu sagen, mehrere Jobs zu haben, liege immer nur am Geld, greife deutlich zu kurz, betont der Arbeitsmarktforscher. Denn auch andere Faktoren hätten zum Minijob-Boom beigetragen: Immer mehr Menschen arbeiteten etwa in Teilzeit und hätten dann auch mehr Zeit für einen Nebenjob. Zum Beispiel im Bereich der Pflege.
"Denen geht es nicht primär darum, mehr Geld zu verdienen", sagt Johanna Knüppel vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK). "Die gehen in Teilzeit, weil die Arbeitsbelastung so hoch ist", so Knüppel. "Manche sagen: Ich arbeite lieber in Teilzeit und gehe nebenher putzen. Das ist zwar auch anstrengend, aber es geht mir damit insgesamt besser." Mehrere Beschäftigungen also, um hohe Arbeitsbelastungen im Hauptberuf abzufedern.
Andere Beschäftigte, so wie Nathalie Dederichs, haben zwei Jobs, um mehr Abwechslung zu haben und weil ihnen der zweite Job am Herzen liegt. Dederichs arbeitet 32 Stunden pro Woche im Betreuten Wohnen. Daneben hat sie einen Minijob, arbeitet pro Monat rund sechs Nächte als Bereitschaft in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit geistiger Behinderung oder Epilepsie. Den Nebenjob hatte Dederichs schon während ihres Studiums begonnen. "Mittlerweile hänge ich sehr an meinen Kollegen und den WG-Bewohnern", sagt die 31-Jährige. Auf das Geld sei sie nicht unbedingt angewiesen. "Aber ich finde den Unterschied zwischen beiden Jobs sehr angenehm."
Im internationalen Vergleich hat kaum ein Land so viele Minijobber wie Deutschland. "Wenn man sich europaweit die Entwicklung anschaut, dann steht Deutschland einsam an der Spitze. So ein Wachstum verzeichnet kein anderes Land in Europa", sagt Weber. Auch in den USA sei der Prozentsatz von Nebenjobbern nicht so hoch wie in Deutschland.
Die starke steuerliche Begünstigung, die die Minijobs so attraktiv machen, sieht der Arbeitsmarktforscher allerdings auch kritisch. So zahlten Mehrfachbeschäftigte in ihrem Minijob meist nicht in die Rentenkasse ein. "Das sieht nicht sehr nachhaltig aus", so Weber. "Und Nebenjobs sind in den allermeisten Fällen auch nicht diejenigen, die sie in ihrer Erwerbs-Karriere wirklich langfristig weiterbringen, die zu einer besseren Arbeitsmarktintegration führen werden."
Sich auch mal was leisten können
Um die geht es aber sowieso nicht allen Mehrfachbeschäftigten. Viele suchen sich den zweiten Job auch, weil sie sich etwas leisten möchten - einen Urlaub, einen Restaurantbesuch oder ein Hobby. So wie Melanie N., 31, aus Bonn. Auch sie arbeitet Vollzeit als Rechtsanwaltsfachangestellte - am Wochenende hilft sie in einer Disco aus. Auch wenn sie den Minijob nicht braucht, um über die Runden zu kommen, gibt er ihr Sicherheit. "Es ist gut zu wissen, dass man sich was zurücklegen kann", sagt sie im DW-Interview. "Es ermöglicht einem finanzielle Freiheit und man muss nicht jeden Euro zwei Mal umdrehen."
Auch wenn die Zahl der Minijobber wächst, weist Weber aber auch darauf hin: "Im deutschen Arbeitsmarkt gibt es insgesamt mehr als 40 Millionen Menschen. Es ist also keineswegs ein Phänomen der ganz großen Masse der Arbeitnehmer, aber es ist etwas, das über die Jahre stetig und deutlich zunimmt" - aus den unterschiedlichsten Gründen.