Warum Italien nicht in die Gänge kommt
1. Mai 2019Seit rund zehn Jahren wird Italien als "kranker Mann Europas" wahrgenommen, dessen krisenanfällige Wirtschaft als Risiko für die Finanzstabilität der gesamten Europäischen Union angesehen wird. Und wiederholt enttäuschende Konjunkturdaten deuten darauf hin, dass Italiens Wirtschaft tatsächlich auf eine Krise zusteuert. Erst vor kurzem hat die Regierung in Rom ihre Wachstumsprognose für 2019 von einem Prozent auf 0,2 Prozent gesenkt.
Eurostat hat bestätigt, dass die Staatsverschuldung Italiens, die mehrere Jahre zurückgegangen war, mittlerweile wieder zulegt und 2018 um fast ein Prozent angestiegen ist. Aktuelle Schuldenquote: 132,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Damit ist die Staatsverschuldung Italiens die höchste in der EU, und durch das für 2019 prognostizierte geringe Wachstum wird ein weiterer Anstieg erwartet. Darüber hinaus ist Italien aktuell auch das einzige EU-Mitglied, dessen Wirtschaft in einer Rezession steckt.
Carlo Alberto Carnevale-Maffe ist davon überzeugt, dass die Situation noch schlimmer ist, als es die Zahlen vermuten lassen. Der Wirtschaftswissenschaftler, der an der Bocconi Universität in Mailand lehrt, erwartet wie andere Analysten sogar ein Null- oder sogar Negativwachstum. Seine Begründung: Die Binnennachfrage ist nach wie vor gering, während die öffentlichen und privaten Investitionen weiter zurückgehen.
"Unsere Exporte sind robust, aber sie sind die einzige positive Komponente unseres Bruttoinlandsprodukts", warnt er im Interview mit der DW. "Und die Ausfuhren sind nicht in der Lage, das Gewicht der gesamten Volkswirtschaft allein zu tragen."
Seit Jahrzehnten politisch und wirtschaftlich fehlerhaftes System
Um die Ursachen für das wirtschaftliche Elend in Italien zu finden, müsse man sich seine Geschichte ansehen, meint Andrea Capussela. Sein Buch mit dem Titel "The Political Economy of Italy's Decline" zeichnet die politische und wirtschaftliche Geschichte des Landes nach und zeigt Ereignisse und Trends auf, die Italien in den Niedergang geführt haben.
Ein wiederkehrendes Merkmal der Misere Italiens sei in den vergangenen Jahrzehnten das Versagen der gesellschaftlichen Institutionen gewesen, besonders ein Mangel an Rechtsstaatlichkeit und politischer Rechenschaftspflicht. Das habe Produktivität, Innovation und letztendlich auch das Wachstum behindert. Nach dem Zweiten Weltkrieg, erklärt Capussela im Gespräch mit der DW, basierte das italienische Wirtschaftswunder auf dem Import hochwertiger Fertigungstechnologie, vor allem aus den USA. Für ein solches Modell, das Innovation und Wachstum vorantreibt, seien die ineffektiven italienischen Institutionen kein Hindernis gewesen.
Das änderte sich in den 1970er und 1980er Jahren, als Italien zu einem voll entwickelten Industrieland wurde und sich seine Industriereviere weiter entwickelten. Zu diesem Zeitpunkt näherte sich das Land seinen technologischen und produktiven Grenzen und hätte solide soziale Institutionen benötigt, um Innovationen voranzutreiben und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu steigern. "Aber das war genau das, woran es in Italien wirklich fehlte", unterstreicht Capussela und das Gegenteil sei eingetreten. "Eine expansive Haushaltspolitik, durch Schulden finanziert, hielt das Wachstum aufrecht, verdeckte aber den Blick auf grundlegende Probleme, wie das Abflauen des Wirtschaftswachstums und zurückgehende Innovationen."
Im Laufe der Wirtschafts- und Währungskrise von 1992 brach das bisherige Wachstumsmodell endgültig zusammen. Das Wachstum Italiens "basierte wieder einmal ausschließlich auf strukturellen Faktoren, nämlich dem Produktivitätswachstum", erklärt Capussela. "Und schließlich wurde der Rückgang dieses Wachstums, den wir noch immer erleben, sichtbar."
Keine Veränderung in Sicht
Die globale Finanzkrise 2008 versetzte der italienischen Wirtschaft einen weiteren Schlag: Seitdem hat sich nach Ansicht von Capussela nichts wirklich geändert, ganz gleich, ob es um eine Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit, die Rechenschaftspflicht der Politik oder um Maßnahmen zur Wachstumsförderung geht.
Die Auseinandersetzung der Regierung in Rom mit Brüssel über ihr geplantes Haushaltsdefizit sorgte Ende 2018 für Aufsehen - es wurde schließlich von 2,4 Prozent auf 2,04 Prozent reduziert, was alle Beteiligten einigermaßen beruhigte. Aber das Problem sei nicht unbedingt, wie groß der Haushalt des Landes ist, sondern wie das Geld ausgegeben wird. Und da sind sich Capussela und Carnevale-Maffe einig: Die Ausgabenpolitik der italienische Regierungskoalition ist ihnen zufolge alles andere als klug.
"Das Problem ist nicht, dass sie nicht mehr Wachstum erreicht haben; das Problem ist, dass sie die tiefer liegenden Ursachen dieser Probleme nicht angegangen sind", sagt Capussela. Kurzfristig hätte man sich um die ineffizienten öffentlichen Ausgaben kümmern müssen, langfristig um die ineffizienten Institutionen Italiens, meint der Buchautor. "Aber nichts davon wurde getan."
Carnevale-Maffe benennt ganz klar die Maßnahmen, die sich nachteilig auf die Qualität der öffentlichen Ausgaben Italiens auswirken.
"Einige Länder stellen Haushaltsmittel für öffentliche Investitionen zur Verfügung, die die Produktivität steigern", sagt er. "Aber mit der neuen Rentenreform, die die Rentenausgaben um zehn Milliarden Euro erhöht, fördert Italien nicht das Wachstum der Wirtschaft. Das Land dämpft stattdessen das Wachstum, reduziert die Beschäftigung und erhöht die finanzielle Belastung für künftige Generationen."
Keine rosigen Aussichten
Für 2019 erwartet Carnevale-Maffe keine Erholung, weil das, was bislang entschieden wurde, nicht mehr rückgängig gemacht werden könne. Was im Jahr 2020 passiert, hänge von der weiteren politischen Entwicklung ab.
Die aktuelle Situation macht nicht gerade Mut: Die beiden Regierungsparteien Fünf-Sterne-Bewegung und Lega können sich wohl nur schwer auf einen Plan einigen, der Italien wieder zu mehr Wirtschaftswachstum verhelfen könnte.