Warum in den Niederlanden Gefängnisse geschlossen werden
16. Oktober 2024Die USA, China, die Türkei und Brasilien sind nur einige der Staaten, in denen die Zahl der Häftlinge steigt. Derweil stehen in den Niederlanden Gefängnisse leer; einige erfahren sogar als Kulturzentren oder Hotels eine neue Nutzung. Der Grund: Die Gefängnisbevölkerung sinkt. Doch wie kam es dazu? Und ist dies wirklich eine Erfolgsgeschichte? Die DW hat Statistiken und Studien durchforstet.
Die Fakten
Nach einer Studieder Universitäten von Leiden (Niederlande) und Portsmouth (Großbritannien) sank die Inhaftierungsrate in den Niederlanden zwischen 2005 und 2016 von 94 auf 51 Insassen pro 100.000 Einwohner.
Zwar setzt sich der Trend nicht weiter fort, aber laut Eurostathaben sich die Zahlen auf niedrigem Niveau eingependelt: 2021 und 2022 lag die niederländische Inhaftierungsrate bei 54.
Die Niederlande gehören damit zu den wenigen Ländern Europas, in denen diese Rate zurückgeht. Nach Angaben der Datenplattform World Prison Brief(WPB) ist diese Entwicklung in Ansätzen auch in Deutschland, Liechtenstein, Bulgarien, Tschechien, Rumänien und dem Baltikum zu beobachten (siehe Grafik).
Übertroffen werden die Niederlande nur von der russischen Föderation: In Russland ging laut WPB die Gefangenenrate seit 2000 um 59 Prozent zurück. Der Grund dafür ist politisch: Die Gefangenen wurden freigelassen, um im Krieg gegen die Ukraine zu kämpfen.
Weltweit ist von einem Rückgang der Gefängnispopulation nichts zu spüren - im Gegenteil: Die Zahlen explodieren. Südamerika verzeichnet seit 2000 einen Anstieg von 224 Prozent, Asien 141 Prozent und Ozeanien 84 Prozent.
Die Gründe
Für die sinkende Gefängnispopulation in den Niederlanden gibt es mehrere Gründe. Dazu gehören unter anderem die Länge der Haftstrafen, die Entwicklung der Kriminalitätsrate, die Verurteilungspraxis, die Arbeit der Justizbehörden, die Kosten für Strafvollzug und Resozialisierung sowie die jeweilige Gesetzgebung.
Weniger und kürzere Haftstrafen
Die Anzahl von Gefängnisstrafen ist zurückgegangen. Wurden 2005 noch 8305 Menschen mit Freiheitsentzug bestraft, waren es 2015 nur noch 4540. Der Rückgang erstreckt sich laut Studie auf jede Art von Straftaten.
Bei Eigentumsdelikten waren es 44 Prozent weniger, bei Gewalt- und Sexualdelikten 39 Prozent und bei Drogendelikten sogar 49 Prozent. Bei Personen, die ins Gefängnis kamen, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlt hatten, betrug der Rückgang 38 Prozent.
In den Niederlanden ist die durchschnittliche Länge von Haftstrafen zudem auffallend kurz. Die Kriminalitätsexperten der Universität Leiden dokumentieren in ihrer Studie, dass die Hälfte aller Gefangenen innerhalb eines Monats wieder entlassen wird.
Zum Vergleich: Laut dem SPACE I Report der Universität von Lausanneverbringen in den 46 Mitgliedsstaaten des Europarates im Durchschnitt nur 5,2 Prozent der Häftlinge weniger als sechs Monate hinter Gittern. Ein Fünftel sitzen zwischen einem und drei Jahren ein.
Seltener in U-Haft
Ein weiterer Faktor ist die sinkende Anzahl von Untersuchungshäftlingen. Während laut Studie 2005 noch 21.029 Personen in Untersuchungshaft kamen, sank diese Zahl 2016 auf 13.350. Dies entspricht einem Rückgang von 37 Prozent.
Sinkende Kriminalitätsrate
Im Zeitraum 2005 bis 2016 ist die Zahl der registrierten Straftaten von 1,3 Millionen im Jahr 2005 auf 930.000 im Jahr 2016 zurückgegangen. Es gab unter anderem 216.000 weniger Eigentumsdelikte (-27%) und 32.000 weniger Gewaltdelikte (-26%).
Der stärkste Rückgang wurde bei Zerstörungsdelikten und Straftaten gegen die öffentliche Ordnung (-50%) und bei Drogendelikten (-31%) verzeichnet.
2018 befanden sich die gemeldeten Straftaten mit 770.000 auf einem historischen Tiefstand. Mittlerweile sind die Zahlen wieder etwas gestiegen. Laut Statista lag die Anzahl der registrierten Straftaten in den Niederlanden 2022 bei 798.000.
Mehr Macht für Staatsanwaltschaft
Seit 2006 können Staatsanwaltschaften in den Niederlanden Fälle ohne Beteiligung eines Richters bearbeiten und Strafen ohne Freiheitsentzug verhängen, zum Beispiel Geldstrafen oder soziale Arbeit. Dies soll zu einer schnelleren Bearbeitung der Fälle führen und Richterinnen und Richter entlasten.
Überraschenderweise habe die Reform jedoch nicht dazu geführt, dass die Staatsanwaltschaften auch tatsächlich mehr Strafen verhängen, so die Studie. Im Gegenteil, die Zahlen seien gesunken.
Dadurch seien viele Fälle nicht an das Gericht weitergeleitet und die Anzahl der Verdächtigen, die möglicherweise eine Haftstrafe hätten erhalten können, verringert worden. Dies wiederum habe zum Rückgang der Gefangenenziffer beigetragen.
Schleppende Ermittlungen
Eine 2017 veröffentliche Untersuchungder Kriminalitätsforscherin Judith van Valkenhoef und ihres Kollegen Edward van der Torre äußert allerdings erhebliche Zweifel an der niederländischen Erfolgsgeschichte. Sie weist auf ineffiziente Ermittlungen und mangelnde strafrechtliche Verfolgung hin.
Die Niederlande seien so zu einem großen Akteur im Bereich der synthetischen Drogen geworden und würden dies auch bleiben, wenn sich die Politik nicht ändere.
Der Kriminologe Francis Pakes, Professor an der Universität Portsmouth und Autor der oben genannten Studie, zieht folgendes Fazit: Der Rückgang der Gefängnispopulation bedeute nicht unbedingt, dass es insgesamt weniger Kriminalität gebe.
Denn wenn Straftaten nicht angezeigt oder ermittelt würden, führe dies zwar zu weniger Verurteilungen, aber nicht insgesamt zu weniger Straftaten. Dies zeige sich unter anderem im wachsenden Einfluss der Drogenmafia in den Niederlanden.
Anmerkung: Leider hatte sich hier ein Zahlenfehler eingeschlichen, in einer vorherigen Version hieß es, dass die Zahl der gesunkenen Straftaten auf 961.000 gesunken war, stattdessen waren es 930.000 - wir bitten um Entschuldigung.