Was bedeuten Geisterspiele?
11. März 2020Wirklich überrascht ist Tobias Bernsen nicht. Gerade hat der Fan des 1. FC Köln erfahren, dass das Spiel zwischen Borussia Mönchengladbach und seinem Verein ohne Zuschauer stattfinden wird, dass sein Ticket für die Partie also wertlos ist. "Eigentlich habe ich schon seit Sonntag damit gerechnet, dass keine Zuschauer zugelassen werden. Natürlich habe ich mich auf ein Derby, ein Abendspiel mit viel Stimmung gefreut, aber ich kann die Entscheidung des Gesundheitsamtes auch nachvollziehen", sagt Bernsen, der eine FC-Mitgliedschaft auf Lebenszeit hat.
Der FC-Anhänger aus Erftstadt begleitet sein Team zu vielen Auswärtsspielen, bei Heimspielen ist er so gut wie immer dabei. Dass nun ausgerechnet das rheinische Derby zwischen den Erzrivalen Gladbach und Köln ohne Publikum stattfindet, findet er schade, mehr ärgert er sich aber über etwas anderes: "Ich wünsche mir eine bundesweit einheitliche Regelung. Warum dürfen beispielsweise in Leipzig Fans ins Stadion und in Mönchengladbach nicht? Das ist inkonsequent."
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Wer in den sozialen Netzwerken mitliest, stellt fest: Es denken viele Fußballfans wie Tobias Bernsen. Die Hängepartie vor einer Entscheidung nervt viele, die unterschiedlichen Auslegungen der lokalen Gesundheitsämter ebenfalls und nicht wenige wünschen sich eine klarere Haltung der Bundesliga. Verständnis für die Vorsichtsmaßnahmen angesichts der schnellen Ausbreitung des neuartigen Coronavirus haben einige, andere sehen darin eine Hysterie. Gleichzeitig rechnen viele Fußballanhänger damit, dass nach Gladbach-Köln, Dortmund-Schalke oder Hoffenheim-Berlin weitere Geisterspiele angesetzt werden, denn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte aus Sorge vor einer weiteren Ausbreitung des Coronavirus wiederholt die Absage von Veranstaltungen mit mehr als 1000 Zuschauern empfohlen. Seine Kollegen in den Bundesländern äußerten sich ähnlich. Da die Deutsche Fußball Liga (DFL) aber unbedingt am Spielplan festhalten will und Verlegungen scheut, bleiben folglich nur Spiele ohne Zuschauer.
"Wie ein Trainingsspiel"
Doch was bedeuten solche Partien eigentlich für Spieler, Vereine und Fans? Zusammenfassend könnte man sagen: Alles ist anders. Den Spielern fehlt die Atmosphäre, die sie pusht. Das Ganze fühle sich einfach anders an, sagt Lutz Pfannenstiel, Sportvorstand von Fortuna Düsseldorf. Als Spieler musste er in der asiatischen Champions League mal vor leeren Rängen ran: "Es herrschte eine ungewohnte Atmosphäre, es wirkte wie ein Trainingsspiel. So etwas ist nicht einfach für die Spieler", so der Ex-Profi im DW-Interview.
Aber was genau bedeutet "nicht einfach"? Sind Spiele ohne Publikum hinderlich für die Leistung der Akteure auf dem Rasen? Valide Zahlen gibt es dazu nicht. Aber es gebe Indizien, sagt Sportpsychologe Fabian Pels: "Es ist eine äußerst ungewohnte Situation für die Spieler. Berichte von Spielern, die schon bei Geisterspielen aufgelaufen sind, zeigen, dass sie sich zumindest zu Beginn unwohl gefühlt haben. Die Atmosphäre ist gedämpft, man wird nicht bejubelt, es wird nicht geklatscht." Und genau das gehöre zum Spieltagsgefühl dazu, so Pels, der an der Deutschen Sporthochschule Köln den Einfluss der Psychologie auf Athleten erforscht. Einen echten Nachteil für die Heimmannschaft will er aber bei Geisterspielen nicht erkennen: "Großangelegte Untersuchungen zeigen, dass der Heimvorteil objektiv gar nicht erst existiert", sagt Pels der DW. "Man kann nicht nachweisen, dass Heimmannschaften signifikant häufiger gewinnen als Auswärtsmannschaften, auch unter Berücksichtigung von Faktoren wie der Anzahl der Zuschauer."
Mentale Vorbereitung auf Geisterspiele
Das bestätigt auch Lutz Pfannenstiel mit seinen fast 30 Jahren Erfahrung im internationalen Fußball. "Wir spielen immer noch elf gegen elf. Es kommt am Ende auf die Qualität an. Ohne die Fans fehlt etwas, ganz klar. Aber wir müssen die Umstände annehmen und gemeinsam das Beste daraus machen."
Kompakt erklärt: Alles was man zu Geisterspielen wissen muss
Für den Trainerstab bedeutet ein Geisterspiel ebenfalls ein Umdenken. Zwar können durch die fehlende Geräuschkulisse besser Kommandos übers Spielfeld gerufen werden. Doch andererseits muss die Spannung hochgehalten werden, damit eben kein Trainingscharakter aufkommt. "Die Spieler sind nicht daran gewöhnt, also müssen wir uns mental darauf vorbereiten", sagt BVB-Coach Lucien Favre, der in Paris (Mittwoch) und gegen Schalke (Samstag) gleich vor zwei Geisterspielen steht. Er selbst habe in der Schweizer Meisterschaft ein Spiel ohne Zuschauer gespielt, erkenne aber keinen Nachteil für die Heimmannschaft: "Das ist sehr komisch ohne Zuschauer. Es ist nicht angenehm, für beide Mannschaften."
Viel spricht dafür, dass dem europäischen Fußball eine längere Phase von Geisterspielen bevorsteht: In Frankreich und Italien müssen alle Ligaspiele bis in den April hinein ohne Zuschauer auskommen, in Spanien und Portugal zumindest während der kommenden Spieltage. In Deutschland verhindert bislang der Föderalismus des Gesundheitssystems ein einheitliches Vorgehen. Internationale Spiele sind ebenfalls nun betroffen: Etwa das der deutschen Nationalmannschaft gegen Italien oder die EM-Playoff-Partie Slowakei gegen Irland. Längst wird sogar über eine mögliche Verschiebung der EURO 2020 spekuliert.
Union Berlin doch ohne Zuschauer
Die Coronavirus-Epidemie wird den Fußball in diesem Jahr also kräftig durcheinanderwirbeln. Borussia Mönchengladbachs Sportdirektor Max Eberl hat dafür Verständnis: "Die Gesellschaft steht über dem Sport. Fußball ist wichtig, aber es gibt viele Dinge, die viel, viel wichtiger sind. Wir müssen uns dem jetzt stellen." Für ihn und seinen Verein bedeutet jedes Geisterspiel einen spürbaren Einnahmenverlust. Der Verein zahlt Fans wie Tobias Bernsen die Kosten für die Eintrittsgelder zurück, wie Eberl auf einer Pressekonferenz am Dienstag bekannt gab. Im Schnitt fehlen den Bundesligisten rund 1,7 Millionen Euro bei jeder Partie ohne Publikum. Es bleibt zumindest für die großen Vereine ein verschmerzbarer Posten, denn Ticketverkäufe machen nur rund 13 Prozent des Gesamtumsatzes aus, wie aus dem DFL-Wirtschaftsreport 2020 hervorgeht.
Für kleinere Vereine sieht die Sache schon anders aus. Spieltage tragen maßgeblicher zu den Einnahmen bei. Das könnte eine Erklärung sein, warum beispielsweise Aufsteiger Union Berlin offenbar viel dafür tat, mit Publikum spielen zu dürfen. Doch das lang ersehnte Heimspiel gegen Rekordmeister FC Bayern München findet nun aber nicht wie zunächst verkündet vor Zuschauern statt. Dies teilten die örtlichen Behörden im Berliner Stadtbezirk Treptow-Köpenick am Mittwoch mit. Tags zuvor hatte es widersprüchliche Angaben vom Bezirksamt und vom Verein gegeben, ob die Partie mit oder aus Sorge um die Ausbreitung des Coronavirus ohne Zuschauer über die Bühne gehen würde. Die wirtschaftlichen Folgen eines Geisterspiels treffen Union härter als größere Vereine, doch die Gesundheit geht vor.