Wang: "China und Deutschland brauchen Raum für Dialog"
25. Februar 2015DW: Herr Wang, Sie haben 2000 bis 2001 ein ganzes Jahr hier gelebt und kehren regelmäßig nach Berlin zurück.
Dieses Mal sind Sie als Referent einer Konferenz zum Thema "Dialog" angereist. Einen Dialog zwischen Deutschland und China gibt es seit Jahrhunderten, seit Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. Jahrhundert. Wie vielfältig ist der kulturelle Austausch heutzutage?
Natürlich ist der Wirtschaftsaustausch gewaltig, daneben gibt es aber auch einen sehr umfangreichen kulturellen Austausch, so viele Veranstaltungen zu China in Deutschland, aber auch in China, wo zum Beispiel das Goethe-Institut Veranstaltungen organisiert. Oft werden dazu auch Teilnehmer von dritter Seite eingeladen, auch aus anderen Ländern als Deutschland oder China.
Woran haben Sie zum Beispiel selber teilgenommen?
Ich habe an vielen Veranstaltungen teilgenommen. Eine davon war ein Trialog, ein Gespräch zwischen Afrika, China und Deutschland, das sich mit Fragen der Migration beschäftigte. Vor zwei Jahren führte ich einen vom Goethe-Institut organisierten Long-Distance-Dialog mit Alexander Kluge, er war in Hannover, ich in Beijing. Dabei ging es um seinen Dokumentarfilm über das Kapital. Einige Zeit danach gab es hier in Deutschland eine Diskussion zu diesen Fragen.
Darüber hinaus gibt es natürlich noch den akademischen Austausch. Ich habe an Konferenzen von Universitäten in Berlin, der Freien wie auch der Humboldt-Universität, in Heidelberg und anderen deutschen Städten teilgenommen. In jedem Jahr gibt es Veranstaltungen, ganz besonders viele in Berlin. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Berlin so gern habe. Viele meiner Freunde leben inzwischen ganz oder zeitweise hier - chinesische Musiker oder Dichter - Yang Lian, Xiao Kaiyu, Zhai Yongming und viele andere - auch viele bildende Künstler wie Qin Yufen, da gibt es einige ...
Stimmt es, dass Sie den deutsch-chinesischen Dialog vor einigen Jahren als ein wenig einseitig kritisiert haben? Dass deutsche Intellektuelle zwar nach China kämen, aber nur in geringem Maße am chinesischen Diskurs interessiert seien?
Ich erinnere mich nicht, so etwas gesagt zu haben, aber es ist möglich. Bei derartigen Begegnungen kommt es nicht immer zu einem Dialog. Aber grundsätzlich ist das ein historisches Phänomen, das hat wenig mit Individuen zu tun. Seit dem späten 19. und im 20. Jahrhundert haben sich chinesische Intellektuelle sehr für den Westen begeistert, für alle Aspekte: Kultur, Technologie, Wissenschaft und andere Dinge. Deshalb haben wir so begierig vieles aus dem Westen übersetzt. Wenn man die Übersetzungsprojekte hier und dort vergleicht, dann gibt es ein ganz offensichtliches Ungleichgewicht. Aber natürlich, wenn wir von der Philosophie sprechen - ohne die Übersetzungen deutscher Philosophen im 19. Jahrhundert wäre die chinesische Entwicklung undenkbar.
Woher kommt dieses Ungleichgewicht?
Es gibt in Deutschland sehr gute China-Experten, aber das Allgemeinwissen in Bezug auf China ist relativ gering. In China verhält es sich genau anders herum. Möglicherweise ist es in China nicht ganz so einfach, Experten zu finden, die Deutschland ebenso gut kennen wie die deutschen Sinologen China, das weiß ich nicht genau. Aber das allgemeine Wissen über den Westen ist in China wesentlich größer.
Ein weiterer Grund liegt in der Struktur der akademischen Welt, die ihre Basis noch immer im Westen hat. Ich denke, das muss sich unbedingt ändern. Natürlich ist das allein wegen der Sprache noch ein weiter Weg für Wissenschaftler in Deutschland wie in China.
Und: Wenn wir über Dialog sprechen, besonders über den interkulturellen Dialog, dann haben wir uns daran gewöhnt, von Dialog in einem sehr strukturierten Sinn zu sprechen. Da gibt es die jüdische, die konfuzianische, die christliche und die islamische Kultur, und es wurde vorausgesetzt, dass stets von der jeweiligen Warte aus kommuniziert wird. Aber heutzutage ist es unsere Lebenserfahrung, zum Beispiel meine eigene, dass ich seit den 1990er-Jahren viel herum gereist bin, ich habe von vielen Menschen gelernt. Ich bin zwar Chinese, sogar ein Wissenschaftler, der sich mit chinesischer Kultur auseinandersetzt, trotzdem möchte ich nicht sagen, dass ich ein Vertreter der chinesischen Kultur wäre. Denn ein großer Teil des Diskurses und meines Denkens ist in seiner Essenz nicht chinesisch. So betrachtet haben wir eine neue Situation. Man muss von einem Wissenschaftler, der einen Dialog führt, verlangen, in diesen Zeiten großer Mobilität seine Komplexität zu verstehen, das ist sehr, sehr wichtig.
Man hat Sie hier hin und wieder als 'chinesischen Habermas' bezeichnet. Möglicherweise, weil Ihre Position in der Gesellschaft eine ähnliche ist, da Sie als Kopf der "Neuen Linken" eine sehr wichtige Rolle spielen. Was denken Sie, wenn Sie einen solchen Vergleich hören?
Habermas ist ein großer Philosoph, und ich respektiere ihn sehr...
Sie haben ihn auch mehrfach getroffen...
Ja. Als ich jünger war, habe ich seine Betrachtungen zum "Strukturwandel der Öffentlichkeit" für die Zeitschrift "Dushu" übersetzt. Ich weiß nicht, warum man einen solchen Vergleich anstellen sollte...
Ich denke, weil Habermas in Deutschland wie Sie in China als führender Denker der philosophischen Linken angesehen wird...
Ja, in diesem Sinn mag das sein... Man hat mich mit der "Neuen Linken" assoziiert. Aber ich halte nichts von diesem Begriff, ich benutze ihn nicht im Zusammenhang mit mir. Denn es ist sehr schwierig, den Begriff "links" im aktuellen Zusammenhang zu definieren. Besonders nachdem "links" in China im 20. Jahrhundert etwas ganz anderes bedeutete als hier. Ich würde viel eher davon sprechen, dass ich ein neues kritisches Denken repräsentiere. Das halte ich für sehr wichtig. Ich habe mich in den 1990er-Jahren, auf dem Höhepunkt der neuen Liberalisierung, äußerst kritisch zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der gesellschaftlichen Differenzierung geäußert. Was dazu geführt hat, dass einige Intellektuelle, mich eingeschlossen, als "Neue Linke" bezeichnet wurden. Zur selben Zeit war ich Herausgeber der Zeitschrift "Dushu", fast zwölf Jahre lang.
Bis 2007...
In dieser Zeit haben wir sehr viele Diskussionsrunden organisiert. Die Teilnehmer dieser Diskussionen kamen aus ganz verschiedenen Lagern, nicht ausschließlich aus dem der "Linken". Wir haben eine Fülle von Themen angesprochen, Fragen sozialer Ungerechtigkeiten, Umweltprobleme, Gender-Fragen, das Thema Nationalismus - diese Themen sind damals dann breit diskutiert worden.
SP: Die Zeitschrift "Dushu" hat viele politische Diskussionen angestoßen?
Ja. Gleichzeitig wurde das Magazin damals zu einer Art öffentlichem Forum, auch für ausländische Diskussionsteilnehmer. Auch Habermas hat an einem dieser Roundtable-Gespräche teilgenommen, die wir anschließend im Heft veröffentlicht haben. Viele deutsche, nord- und lateinamerikanische, indische, afrikanische, japanische, auch Intellektuelle aus Hongkong und Taiwan - sie alle haben an Diskussionen in China teilgenommen. In diesem Sinne war das ein echter Dialog.
Glauben Sie, dass das genau das ist, was Außenminister Steinmeier in seinem Vortrag bei der Dialog-Konferenz als den notwendigen Dialog von Zivilgesellschaften bezeichnet hat?
Ja, unbedingt. Dieser Dialog hat den öffentlichen Raum bereits erobert.
In Ihrem Diskussionsbeitrag erwähnten Sie die chinesische "Vierte-Mai-Bewegung" von 1919 und welche Bedeutung kulturellen Bewegungen damals zukam, um nicht nur den politischen Diskurs, sondern tatsächlich auch die politische Realität Chinas zu verändern. Viele chinesische Intellektuelle beklagen heutzutage, dass die wirtschaftliche Entwicklung die gesellschaftliche dominiere. China scheint - außerhalb gewisser akademischer Kreise - sein kulturelles Gedächtnis zu verlieren. Welche Rolle spielt die Kultur und das kulturelle Gedächtnis gegenwärtig in China?
Ich gebe Ihnen recht, dass sich zur Zeit tatsächlich fast alles um die Wirtschaft dreht. Ich selber habe mich schon mehrfach dazu geäußert, dass wir eine kulturelle Debatte über die aktuelle Krise brauchen, dass wir uns ganz grundsätzlich Gedanken machen müssen über die Art der Entwicklung an sich. Wir brauchen eine kulturelle Debatte dieser Themen.
Zum kulturellen Gedächtnis: Einerseits muss man festhalten, dass es aufgrund der Marktwirtschaft immer nur um materielle Dinge geht. Aber auf der anderen Seite gibt es gleichzeitig auch eine Wiederbelebung unseres kulturellen Gedächtnisses. Tausende von Museen wurden eröffnet, überall, allein in Beijing kann man viele Museen besuchen. Das ist ein erstes Zeichen für die Neubelebung unseres kulturellen Gedächtnisses. Es gibt Museen zur Geschichte von Städten und Regionen, nicht allein Kunstmuseen. Es gibt viele private Museen, in Sichuan zum Beispiel, in Dayi, in der Nähe von Chengdu, wo ein Museum zur Kulturrevolution eingerichtet wurde. Ein Museum zum chinesischen Widerstand gegen Japan während der japanischen Besatzung, auch in Sichuan. Auch zu den archäologische Entdeckungen gibt es große Museen, in Zhengzhou, Xi‘an, Kaifeng, überall. Auch Möbel-Museen, zu allem Möglichen gibt es jetzt Museen, es ist überwältigend, das hat es in unserer Geschichte noch nie gegeben.
Aber im selben Moment wird das kulturelle Erbe zerstört. All die alten Häuser und alten Dörfer werden abgerissen.
Das ist Teil der Urbanisierung. Deshalb brauchen wir eine kulturelle Reflexion über die Art unserer Entwicklung. Wir dürfen die Dinge nicht allein ins Museum verlagern, sondern wir müssen unsere Lebenskultur, unsere Art zu leben reflektieren. Es gibt beides: Auf der einen Seite wird vieles zerstört, auf der anderen gibt es einen Prozess zur Erhaltung und Wiederbelebung unseres kulturellen Erbes.
Was wünschen Sie sich für den Dialog zwischen Deutschland und China in einer globalisierten Welt?
Ich wünsche mir einen neuen öffentlichen Raum. Nicht allein einen Dialog zwischen Deutschland und China, sondern einen Raum, in dem Intellektuelle aus China und Deutschland zusammenarbeiten können, um Veranstaltungen und Projekte vorantreiben zu können. Einiges hat schon begonnen, aber das ist bisher noch sehr wenig. Denn dazu brauchen wir wirklich ein gemeinsames Wissen. Wir müssen erst durch die Debatte gemeinsame Projekte finden, einen gemeinsamen Grund, was nicht notwendiger Weise bedeutet, ohne Differenzen. Ich komme oft hierher, und ich habe hier viele Freunde, deutsche Freunde, und wenn wir miteinander sprechen, dann denken wir nicht daran, ob wir Chinesen oder Deutsche sind, wir sprechen über Themen. Für diese Fragen brauchen wir einen neuen Raum, einen, den wir in der Zukunft finden sollten.
Wang Hui ist Professor für Chinesisch und Chinesische Literatur an der Tsinghua-Universität in Beijing. Er gehört mit seinen soziologischen Publikationen zu den einflussreichsten Intellektuellen Chinas und, laut einem Ranking der US-Zeitschrift „Foreign Policy“ von 2007, der Welt. Wang Hui setzt sich für den philosophisch-politischen Dialog zwischen China und dem Westen ein. Das Interview führte Sabine Peschel am Rande der Konferenz „Dialog und die Erfahrung des Anderen“ (23.-24.02.2015) in Berlin.