Der Mord an Walter Lübcke und seine Folgen
2. Juni 2020Das Opfer hatte keine Chance, seinem mutmaßlichen Mörder Stephan E. zu entkommen. Der näherte sich nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft "im Schutze der Dunkelheit dem Wohnhaus von Dr. Walter Lübcke, der zu diesem Zeitpunkt auf der Terrasse saß". Und weiter heißt es in der Ende April 2020 erhobenen Anklage: "Stephan E. schlich sich an ihn heran und schoss ihm aus kurzer Entfernung mit einem Revolver der Marke Rossi in den Kopf." In den frühen Morgenstunden des 2. Juni 2019 verstarb der Präsident des Regierungsbezirks Kassel im Bundesland Hessen.
Die äußeren Umstände der Tat erinnern an eine Hinrichtung. Und so sollte sie auch verstanden werden. Denn der 66-jährige Christdemokrat (CDU) war in radikalisierten rechten Kreisen seit 2015 eine Hassfigur, weil er sich für die damals in großer Zahl nach Deutschland kommenden Flüchtlinge engagierte. Was Lübckes Tod von den vielen anderen Mordopfern von Rechtsextremisten und Terroristen unterscheidet: Erstmals wurde gezielt ein politischer Repräsentant des Staates getötet. Vorher waren es Asylbewerber und Migranten.
Walter Lübcke wurde knapp ein Jahr nach dem Ende des spektakulären Strafprozesses gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ermordet. Im Juli 2018 war die Rechtsterroristin Beate Zschäpe zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und die besondere Schwere ihrer Schuld festgestellt worden: Zehn Morde und zwei Bombenanschläge haben Zschäpe und ihre 2011 tot aufgefundenen Gesinnungsfreunde Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gemeinsam geplant und verübt.
Die Umstände erinnern an die Mordserie des NSU
Eine abschreckende Wirkung hat das Urteil nicht gehabt - im Gegenteil. So makaber es anmuten mag, aber Walter Lübcke verlor auf die gleiche Weise sein Leben wie die vom NSU willkürlich ausgewählten neun Männer mit ausländischen Wurzeln und die Polizistin Michèle Kiesewetter. Auch sie wurden aus nächster Nähe geradezu exekutiert. Doch während die Opfer des NSU völlig arglos waren, wusste der CDU-Politiker, dass er im Visier einer zu allem bereiten rechten Szene stand.
Hassmails und Morddrohungen gehörten zu seinem Alltag, seit er sich 2015 offen auf die Seite der Flüchtlingspolitik seiner Parteifreundin und Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte. Auslöser war die damals geplante Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft in der nordhessischen Kleinstadt Lohfelden. Auf einer Bürgerversammlung verteidigte Lübcke das Vorhaben, während ihm ein Teil der gut 14.000 Einwohner skeptisch bis ablehnend gegenüberstand.
Das mutmaßliche Motiv: Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
Auch der mutmaßliche Mörder Stephan E. war nach eigener Aussage unter den Besuchern der hitzigen Versammlung. Sein Geständnis, die Tat begangen zu haben, widerrief er allerdings kurze Zeit später. Der Generalbundesanwalt ist trotzdem davon überzeugt, den Richtigen gefasst zu haben. Ausschlaggebend für den Mord sei dessen "von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit getragene völkisch-nationalistische Grundhaltung".
Zudem sei es Stephan E. darauf angekommen, "durch die Ermordung ein öffentlich beachtetes Fanal gegen die von ihm abgelehnte gegenwärtige staatliche Ordnung zu setzen". Sein Ziel hat der mutmaßliche Mörder erreicht. Die im rechtsextremistischen Milieu immer wieder zu hörende und im Internet zu lesende Forderung, den Worten Taten folgen zu lassen, endete für Walter Lübcke tödlich. Sein Name soll bereits seit Jahren auf sogenannten Feindeslisten gestanden haben, die in der Szene kursieren - auch beim schon 1998 untergetauchten NSU-Trio.
Der Kampf gegen alte und neue Nazis ist jetzt Chefsache
Trotz dieser zum Teil sehr frühen Erkenntnisse unterschätzten Politik und Sicherheitsbehörden die Gefahr des Rechtsextremismus noch viele Jahre. Das änderte sich erst mit dem Mord an Walter Lübcke und dem Attentat auf die Synagoge in Halle (Bundesland Sachsen-Anhalt) im Oktober 2019. In kürzester Zeit präsentierte die Bundesregierung einen umfangreichen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus. Wie nötig er ist, belegt die am 27. Mai vom Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlichte Statistik zu politisch motivierten Straftaten. Dabei sprach der christsoziale (CSU) Innenminister Horst Seehofer von einer "langen Blutspur" des Rechtsextremismus.
Dazu gehört nicht zuletzt das rassistische Attentat von Hanau (Bundesland Hessen), bei dem am 19. Februar 2020 zehn Menschen ermordet wurden. Einen Monat später bildete die Bundesregierung einen eigenen Ausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus. Dem von Seehofer geleiteten Gremium gehören unter anderem das Außen-, Justiz-, Familien- und Bildungsministerium an. Schon die hochrangige Zusammensetzung zeigt: Der Kampf gegen alte und neue Nazis ist nach langem Zögern zur Chefsache geworden.
Angela Merkels Sprecher kündigt weitere Maßnahmen an
Am 20. Mai, kurz vor dem ersten Jahrestag der Ermordung Walter Lübckes, tagte der neue Kabinettsausschuss zum ersten Mal. Anschließend sagte Angela Merkels Sprecher Steffen Seibert in der Regierungs-Pressekonferenz: Ziel sei es, "in Ergänzung zu den bereits ergriffenen Maßnahmen bis Herbst dieses Jahres weitere konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus zu entwickeln".
Organisationen, die sich schon lange gegen rechte Gewalt engagieren, loben die jüngste Initiative der Bundesregierung. Timo Reinfrank von der nach einem Rassismus-Opfer benannten Amadeu-Antonio-Stiftung in Berlin fordert aber auch, Betroffene von Hassgewalt sowie die Zivilgesellschaft und Wissenschaft in die Arbeit des Kabinett-Ausschusses einzubeziehen.
Außerdem plädiert er für klare Ziele: Konkret nennt er die Halbierung der politisch motivierten Kriminalität von rechts in den nächsten fünf Jahren. Im gerade vorgelegten Bericht macht sie mit über 22.000 von insgesamt 41.000 Fällen mehr als die Hälfte aus.