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Wahlrecht für US-Sträflinge: Wer bekommt eine zweite Chance?

27. Oktober 2024

Wer in einigen US-Bundesstaaten für ein schweres Verbrechen im Knast saß, darf vielleicht nie wieder wählen. Kritiker nennen das mittelalterlich. George Hawkins aus Virginia kämpft darum, sein Wahlrecht zurückzubekommen.

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Hassan Shabazz und George Hawkins, zwei schwarze Amerikaner, unterhalten sich in einem Park in Richmond, Virginia.
George Hawkins (rechts) und sein Freund Hassan Shabazz saßen beide lange Jahre im Gefängnis und sind nun wieder frei. Aber nur einer von ihnen darf wählen.Bild: Carla Bleiker/DW

Im Alter von 17 Jahren kam George Hawkins ins Gefängnis und saß eine mehr als 13-jährige Haftstrafe ab. Seit Mai 2023 ist der heute 32-Jährige ein freier Mann - aber ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist er nicht. Wie hunderttausenden anderen Menschen im südlichen US-Bundesstaat Virginia bleibt ihm auch nach seiner Freilassung das Wahlrecht verwehrt.

"Es ist ungerecht." Hawkins sitzt an einem strahlend sonnigen Herbsttag in einem Café in Virginias Hauptstadt Richmond. "Ich bin ein Teil meiner Nachbarschaft, ein Teil der Gesellschaft. Ich zahle Steuern. Ich tue alles, was ein Bürger so tut und gehorche den Menschen, die die Gesetze machen. Aber ich habe in der Welt, in der ich lebe, nichts zu sagen." Er spricht ruhig und sicher, wie ein Mann, der diese Sätze schon sehr oft gesagt hat.

Am 5. November wird in den USA ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin gewählt. Außerdem bestimmen Amerikanerinnen und Amerikaner, wer sie im US-Kongress und in ihrem Stadtrat vertritt, wer die Geschicke ihres Staates leitet und wer im örtlichen Schulausschuss sitzt. Aber in einigen Bundesstaaten dürfen ehemalige Straftäter, die für ein schweres Verbrechen (auf Englisch felony) im Gefängnis saßen und jetzt wieder frei sind, an diesem demokratischen Ritual nicht teilnehmen.

"Diese Männer und Frauen sind erst eingesperrt und dann ausgesperrt", sagt Christa Ellison, Direktorin der NGO Freedom Over Everything, die sich für die Rechte von Gefängnisinsassen und ehemaligen Gefangenen in Virginia einsetzt. Ellison frühstückt an diesem Morgen mit Hawkins. Ausgesperrt, damit meint sie vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen.

Christa Ellison, Hassan Shabazz und George Hawkins, drei schwarze Amerikaner, sitzen an einem Tisch in einem Café und unterhalten sich. Auf dem Tisch befinden sich Bagels, Kaffeebecher und ein Laptop.
Hawkins, Shabazz und Christa Ellison (von links nach rechts) kämpfen seit Jahren für die Rechte von Menschen, die im Gefängnis sitzen oder saßen.Bild: Carla Bleiker/DW

Virginias Gouverneur entscheidet über Wahlrecht "wie ein Monarch"

Rund 4,6 Millionen Menschen in den USA dürfen nicht wählen, weil sie eine schwere Straftat begangen haben. Diese Schätzung kommt von der ACLU (American Civil Liberties Union), einer angesehenen Bürgerrechtsorganisation. Wer genau "ausgesperrt" wird, wenn die anderen ins Wahllokal gehen, entscheidet jeder Bundesstaat nach eigenen Gesetzen. In Staaten wie Kalifornien oder Minnesota beispielsweise dürfen nur Gefängnisinsassen nicht wählen. Wer seine Strafe abgesessen hat, darf auch wieder seine Stimme abgeben.

Virginia gilt als Staat mit der strengsten Regelung. Hier bekommt erstmal niemand, der eine schwere Straftat jeglicher Art begangen hat, sein Wahlrecht zurück. Wenn die Haftstrafe abgesessen und mögliche Geldstrafen abgeglichen sind, können ehemalige Straftäter einen Antrag bei Virginias Gouverneur, Glenn Youngkin, stellen. Der Republikaner entscheidet dann, wer wieder wählen darf und wer nicht.

Eine Sprecherin des Gouverneurs sagte im November 2023, dass Youngkin "fest an die Wichtigkeit von zweiten Chancen für Bürger von Virginia glaubt, die Fehler gemacht haben und daran arbeiten, aktive Mitglieder der Gesellschaft zu werden." (Auf die aktuelle Anfrage der DW zum Thema Wahlrecht hat Youngkins Büro zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels nicht reagiert.)

Nur wenige Tage, nachdem Hawkins seine Haftstrafe für versuchten Mord abgebüßt hatte, beantragte er im Mai 2023 sein Wahlrecht zurück. "Das wurde so schnell abgelehnt, ich wusste gar nicht, wie mir geschieht", erzählt Hawkins. "Dann habe ich mich sofort wieder beworben. Diesmal hieß es, ich käme für den Prozess nicht in Frage."

George Hawkins schaut auf sein Handy
Hawkins: "Der Staat kann mir meine Grundrechte wegnehmen, und das soll nicht illegal sein?"Bild: Carla Bleiker/DW

Hawkins strengte einen Gerichtsprozess gegen das Auswahlverfahren des Gouverneurs an, doch im August 2024 lehnte ein Richter die Klage ab. Die Art, wie Youngkin die Ex-Häftlinge auswählt, die ihre Rechte zurückbekommen, sei zwar intransparent, und das ganze Prozedere erinnere "stark an einen Monarchen", sagte Richter John A. Gibney Jr. Aber es verstoße nicht gegen das Gesetz. 

Keine klaren Kriterien bei der Entscheidung übers Wahlrecht

Worauf genau die Entscheidung basiert, wer wieder wählen darf und wer nicht, das weiß nur Youngkin selbst - eine Begründung erhalten die, deren Anträge abgelehnt werden, nicht. "Wir können zwar Vermutungen anstellen - vielleicht stehen die Chancen schlechter für Bewerber, die gewalttätige Straftaten begangen haben", sagt Chris Kaiser von der ACLU Virginia, im DW-Interview. "Aber es gibt keine klaren Kriterien." 

Eine Unterscheidung zwischen gewalttätigen und nicht gewalttätigen schweren Straftaten ist in einigen Bundesstaaten gesetzlich festgeschrieben, wenn es darum geht, wer nach Absitzen seiner Strafe das Wahlrecht zurückerhält. Hawkins findet das ungerecht. "Hinter der Gefängnismauer sind wir alle gleich: Gleiches Essen, gleiche Toiletten", sagt er. "Wofür genau jemand einsitzt, erfährst du nur, wenn du ihn direkt fragst. Und seine Mutter hat genauso geweint wie meine."

Auch Kaiser von der ACLU hält nichts von der Unterscheidung. "Einige Verbrechen sind so schlimm, dass die Menschen, die sie begangen haben, für immer hinter Gittern sitzen. Was die anderen angeht - wir sind hier nicht mehr im Mittelalter. Wer seine Strafe abgebüßt hat, darf wieder Teil der Gesellschaft werden", sagt er. Und wenn sich ehemalige Straftäter in der Gemeinschaft willkommen fühlen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen dürfen, sei die Wahrscheinlichkeit von Rückfällen geringer, so Kaiser weiter. Davon profitiere jeder. 

Zwei Freunde, zwei Schicksale

Wieder ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden: Hassan Shabazz hat das geschafft. Als er 2022 nach mehr als 23 Jahren aus der Haft entlassen wurde, wusste er, dass er am politischen Prozess teilhaben wollte. Shabazz ist im Gefängnis ein sogenannter "jailhouse lawyer" geworden, ein Anwaltsassistent, der als Häftling andere Insassen bei Rechtsfragen berät. Auch er sitzt am Mittwochmorgen bei Bagels und Kaffee in Richmond.

Wenn er lächelt, wirkt der 48-Jährige nicht viel älter als George Hawkins, obwohl die beiden Männer 16 Jahre trennen. Vielleicht liegt das auch daran, dass Shabazz mehr Glück gehabt hat als sein Freund. Als Shabazz aus dem Gefängnis entlassen wurde, war es in Virginia noch wesentlich einfacher, sein Wahlrecht wiederzuerlangen. "Ich bin auf eine Website gegangen, habe mich eingeloggt und meinen Namen eingegeben", erzählt Shabazz. "Dann hatte ich meine Rechte wieder."

Dass Shabazz' Geschichte sich so stark von Hawkins' unterscheidet, liegt daran, dass zwischen den beiden ein Wechsel in Virginias Regierung stattfand. Youngkins Vorgänger, der Demokrat Ralph Northam, hatte in seiner Amtszeit verfügt, dass alle Straftäter, die ihre Strafe abgesessen hatten, wieder wählen durften. Youngkin beendete diese Praxis kurz nachdem er 2022 das Amt übernahm.

USA: Viele Schwarze sind frustriert

"Du bist hier nicht willkommen"

Die aktuelle strenge Regelung trifft vor allem schwarze Amerikaner und Amerikanerinnen hart. Mehr als einer von 10 Afroamerikanern im wahlfähigen Alter ist in Virginia aufgrund einer ehemaligen Verurteilung von der Wahl ausgeschlossen. Landesweit trifft das auf 5,3 Prozent der schwarzen Amerikaner im wahlfähigen Alter zu. Diese Zahl ist 3,5 mal höher als bei Amerikanern, die nicht schwarz sind, berichtet Kaiser von der ACLU. "Das verzerrt unsere gesamte Wählerschaft", sagt der Bürgerrechtler. "Die Kriminalitätsrate von schwarzen Amerikanern ist ja nicht höher als bei weißen Amerikanern. Wir haben ein unfaires, ungleiches Strafjustizsystem."

George Hawkins sagt, die Verweigerung seines Wahlrechts sendet eine klare Botschaft. "Die Gesellschaft sagt mir, 'Wir wollen nicht, dass du ein Mitspracherecht bekommst, George. Du bist hier immer noch nicht willkommen, du bedeutest hier gar nichts.'" Seine sonst so ruhige Stimme ist lauter geworden. "Ich habe noch nie in meinem Leben gewählt. Ich möchte als Erwachsener mitentscheiden. Ich als Mensch habe sehr wohl eine Bedeutung."

Carla Bleiker
Carla Bleiker Redakteurin, Channel Managerin und Reporterin mit Blick auf Wissenschaft und US-Politik.@cbleiker