Wahlleitung von Belarus: Nur 9,9 Prozent für Tichanowskaja
10. August 2020Die belarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja erkennt das offizielle Auszählungsergebnis nicht an, nach dem Amtsinhaber Alexander Lukaschenko die Präsidentenwahl gewonnen hat. Sie betrachte sich als Wahlsiegerin, nicht Lukaschenko, sagte sie vor Journalisten in Minsk. Es habe massive Manipulationen bei der Abstimmung gegeben. Tichanowskajas Berater erklärten, die Opposition verlange eine Neuauszählung der Stimmen in Wahllokalen, wo Probleme aufgetreten seien. Zudem fordere die Opposition Gespräche mit den Regierenden über einen friedlichen Machtwechsel.
Internationale Wahlbeobachter nicht zugelassen
Den vorläufigen offiziellen Ergebnissen zufolge hat Lukaschenko 80,2 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt. Seine Hauptrivalin, die frühere Englisch-Lehrerin Tichanowskaja, kam danach auf 9,9 Prozent der Stimmen. Eine unabhängige Überprüfung der Ergebnisse ist nicht möglich, weil internationale Wahlbeobachter nicht zugelassen waren. Die Wahlbeteiligung in der Ex-Sowjetrepublik wurde mit rund 84 Prozent der 6,8 Millionen Stimmberechtigten angegeben.
Tichanowskaja war angetreten, nachdem ihr Mann, der bekannte Blogger Sergej Tichanowski, inhaftiert und von der Wahl ausgeschlossen worden war. Die 37-Jährige hatte in den vergangenen Wochen massiv an Zustimmung gewonnen und zahlreiche Anhänger mobilisiert.
Demonstrant von Polizei-Fahrzeug überfahren
Tichanowskajas Unterstützer hatten nachts im ganzen Land zu Tausenden gegen Lukaschenko und Wahlfälschungen protestiert. Sie stellten sich gegen die Sicherheitskräfte, die Wasserwerfer, Tränengas und Blendgranaten gegen die Demonstranten einsetzten (unten im Video - darin auch: Aufnahmen der Opposition, die Wahlfälschungen belegen sollen ).
Nach Auskunft der Menschenrechtsgruppe "Spring 96" starb in Minsk ein Demonstrant, als er von einem Polizei-Transporter überfahren wurde. Mehr als 50 Zivilisten und 39 Polizisten seien in der Nacht verletzt worden, teilte das Innenministerium mit. Zudem habe die Polizei rund 3000 Menschen festgenommen. Regierungsgegner kündigten in sozialen Netzwerken neue Proteste an.
Lukaschenko: Vom Ausland ferngesteuerte "Schafe"
Amtsinhaber Lukaschenko bezeichnete die Demonstranten in einer ersten Reaktion als vom Ausland ferngesteuerte "Schafe". Die Behörden hätten Demonstranten abgehört und "Anrufe aus dem Ausland aufgezeichnet", sagte Lukaschenko laut der staatlichen Nachrichtenagentur Belta in Minsk. "Es gab Anrufe aus Polen, Großbritannien und Tschechien. Sie habe unsere - verzeihen Sie mir - Schafe gesteuert", sagte der 65-Jährige.
Der seit 26 Jahren mit harter Hand regierende Staatschef kündigte zudem an, er werde nicht zulassen, dass das Land "auseinandergerissen" werde. Die nächste Amtszeit wäre schon Lukaschenkos sechste.
Scharfe Kritik der Bundesregierung
Die Bundesregierung kritisierte die Entwicklungen in Belarus scharf. "Die zahlreichen Berichte über systematische Unregelmäßigkeiten und Wahlrechtsverletzungen sind glaubhaft", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Die Wahlen hätten nicht den demokratischen Mindeststandards entsprochen. Es sei bedauerlich, dass die Führung in Minsk der Forderung der EU nicht nachgekommen sei, Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zuzulassen.
Die Bundesregierung verurteile zudem den Einsatz von Gewalt und die zahlreichen Festnahmen, sagte Seibert. Die belarussische Regierung müsse die Rechte der Menschen im Land gewährleisten. Es werde nun im Rahmen der Europäischen Union zu besprechen sein, wie Europa nun gemeinsam reagiere. Er mahnt dabei eine einheitliche Haltung der 27 Mitgliedstaaten an.
Bundesaußenminister Heiko Maas hat sich dafür ausgesprochen, eine Reaktivierung von EU-Sanktionen gegen das autoritär regierte Land zu prüfen. Die Hoffnungen auf mehr Rechtsstaatlichkeit in Belarus hätten mit der Wahl "mehr als nur einen herben Rückschlag erlitten", sagte Maas in Berlin (weitere Aussagen von Maas zur Situation in Belarus im Video unten).
Der Grünen-Politiker Manuel Sarrazin kritisierte, dass in Belarus keine Abstimmung bisher so gefälscht worden sei wie nun die Präsidentenwahl. Die EU müsse daher erkennen, dass für sie nur die demokratische Opposition in Belarus ein Partner sein könne, sagte Sarrazin in einem Interview der Deutschen Welle. Lukaschenko habe dagegen sein Versprechen nicht gehalten, für faire Wahlen zu sorgen. So lange er an der Spitze von Belarus stehe, könne die Europäische Union sich diesem Land nicht öffnen. Sarrazin forderte daher, dass die EU "das volle Regime der Sanktionen wieder einführen müsse". Lukaschenko sei "nur eine korrupte Marionette des Kremls", die sich als nationaler Führer aufspiele, Belarus im Hintergrund aber für russische Interessen verkaufe. Sarrazin ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages und osteuropapolitischer Sprecher der Grünen.
Appelle der EU, Polens und Litauens
Auch EU-Ratspräsident Charles Michel verurteilte das aggressive Einschreiten von Sicherheitskräften nach der Präsidentenwahl scharf. "Die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die grundlegenden Menschenrechte müssen gewahrt werden", forderte Michel in Brüssel. "Gewalt gegen Demonstranten ist nicht die Antwort."
Polen und Litauen riefen die Führung in Minsk ebenfalls zum Verzicht auf Gewalt auf. In einer gemeinsamen Erklärung schreiben die beiden Staatsoberhäupter Andrzej Duda und Gitanas Nauseda: "Wir glauben, dass der Dialog immer die beste Methode ist, um die soziale Entwicklung voranzutreiben, Reformen und Strategien zu diskutieren", betonen Duda und Nauseda. Auch liege eine engere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union im Interesse von Belarus.
sti/se (dw, afp, ap, dpa, rtr)