Wahlkampf in Polen: Tusk will Asylrecht aussetzen
14. Oktober 2024Polens Ministerpräsident Donald Tusk hat seine rechtskonservativen Gegner und liberalen Anhänger überrascht. Zum ersten Jahrestag des Wahlsieges der Mitte-Links-Koalition ging Polens Regierungschef am Samstag (12.10.2024) beim Kongress seiner Gruppierung Bürgerkoalition (KO) mit einer neuen Strategie für die Migrationspolitik an die Öffentlichkeit.
Der Staat müsse hundert Prozent Kontrolle darüber zurückgewinnen, wer nach Polen ein- und ausreist, sagte Tusk vor den Delegierten. "Kontrolle zurückgewinnen, Sicherheit gewährleisten", heißt es in dem Konzept, dessen Details erst am Dienstag (15.10.2024) bei der Kabinettssitzung vorgestellt werden sollen.
Laut Tusk soll ein Element dieser Strategie die "vorübergehende territoriale Aussetzung des Asylrechts" sein. Als Präzedenzfall nennt er Finnland.
Das finnische Parlament hatte im Juli dieses Jahres ein Gesetz gegen die Einreise von Migranten über Russland beschlossen. Das vorübergehend für ein Jahr geltende Gesetz richtet sich gegen Migranten aus Drittländern, die von Russland aus nach Finnland gelangen wollen.
Auf dem Parteikongress erklärte Tusk, dass er für die finnische Gesetzesinitiative in Europa werben wolle. Das Asylrecht sei vom belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko, von Russlands Präsident Wladimir Putin und von Schmugglern und Menschenhändlern missbraucht worden.
Tusk kritisierte das gemeinsame Migrations- und Asylpaket der EU (GEAS). In Bezug auf den EU-Migrationspakt drohte er an, keine europäischen Ideen zu respektieren oder umzusetzen, wenn wir sicher sind, die die Sicherheit des Landes gefährdeten.
Deutliche Kritik an dieser politischen Ausrichtung kommt von Hanna Machinska. Die polnische Juristin und Menschenrechtsaktivistin ist ehemalige Leiterin des Europarats-Büros in Warschau und war bis 2022 stellvertretende Beauftragte für Bürgerrechte beim polnischen Sejm.
Tusks Vorschlag richte sich gegen EU-Recht und ignoriere internationale Verpflichtungen, so Machinska. Die kleineren Mitglieder in Tusks Koalition - die Linke und Polska2050 - würden Tusks Idee nicht unterstützen, berichtete die Internetplattform Onet.
Wer wird Nachfolger von Präsident Duda?
Mit der restriktiven Migrationspolitik will Tusk der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) des ehemaligen polnischen Premiers Jarosław Kaczyńskii den Wind aus den Segeln nehmen. Denn die Kaczynski-Partei will in den nächsten Monaten eine halbe Million Unterschriften sammeln, die nötig sind, um ein Referendum über den EU-Migrationspaket durchzusetzen.
Der Volksentscheid sollte ein wichtiges Element des Wahlkampfes der National-Konservativen vor der Präsidentenwahl im kommenden Sommer sein. Die Amtszeit von Andrzej Duda endet im August 2025.
Nun hat Tusk den Spieß umgedreht. Er greift Kaczynski auf dem Gebiet an, das bisher dem PiS-Chef und seinem politischen Lager Zustimmung garantierte. In der Regierungszeit der PiS habe eine Welle der illegalen Migration Polen "überschwemmt", kritisierte Tusk seine Vorgänger und präsentierte sich als der Politiker, der die illegale Migration "auf ein Minimum" reduzieren würde.
Dabei spielt Tusk auf die inkonsequente Ausländerpolitik der PiS an, die einerseits gegen Flüchtlinge hetzte, um bei den Wählern anzukommen, gleichzeitig aber übermäßig viele Arbeitsvisa an Menschen aus anderen Kontinenten vergab, ein Teil davon gegen Schmiergeld. In den Jahren 2018 bis 2023 stellten polnische Konsulate 3,8 Millionen Arbeitsvisa aus - ein europäischer Rekord.
Reformversprechen bleiben liegen
"Tusk weiß, dass der Ausgang der Präsidentenwahl 2025 nicht von den liberalen und linken Stammwählern entschieden wird, sondern von den Emotionen von Millionen Polen", kommentierte am Montag der Chefredakteur der Zeitung Rzeczpospolita, Michal Szuldrzynski. "Diese Emotionen sind anders als die der liberalen Intellektuellen, die die Basis der Tusk-Partei darstellen."
Für die Eroberung des Präsidentenpalastes durch einen Kandidaten aus seinem politischen Lager ist Tusk bereit, manche Kröte zu schlucken. Denn der neue Staatschef wird über Erfolg oder Niederlage seiner Regierung entscheiden.
Durch seine Vetopolitik blockiert Duda, ein enger Verbündeter der PiS, die Reformen der neuen Regierung. Die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit, der Prozess der Abrechnung mit den korrupten Vorgängereliten, die Erneuerung des diplomatischen Dienstes - das alles stockt oder kommt nur sehr schleppend voran. Selbst die treuesten Anhänger Tusks werden ungeduldig. Die Stimmung kann schnell kippen.
Kaczynski schließt die Reihen der "Patrioten"
Um die Bedeutung der Präsidentenwahl weiß auch Tusks Widersacher - Jaroslaw Kaczynski. Dieser will die Reihen des national-konservativen Lagers enger schließen.
Am Samstag (12.10.2024) fusionierte die PiS trotz Widerstand in den eigenen Reihen mit ihrem ehemaligen Koalitionspartner, der Rechtsaußen-Partei Souveränes Polen (früher Solidarisches Polen). Die kleine Gruppierung unter der Führung von Ex-Justizminister Zbigniew Ziobro gilt als europaskeptisch und radikal.
"Der Zusammenschluss ist ein Signal an die Gesellschaft, dass das patriotische Lager geeint ist", begründete Kaczynski den Schritt. "Wir werden uns so krummlegen und anstrengen müssen wie 2015, um zu gewinnen", stimmte er seine Partei auf den Wahlkampf ein.
Kaczynski bleibt antideutschen Parolen treu
In seiner Rede auf dem PiS-Kongress am Samstag unterzog Kaczynski die Regierung einer totalen Kritik. "Unsere Demokratie, alle Regeln der Rechtsstaatlichkeit, das Gebiet der Rechte, nicht nur Bürgerrechte, sondern auch Menschenrechte wurden angegriffen", rief er vom Rednerpult.
Wie im Wahlkampf 2023 warf der Chef der Nationalkonservativen seinem Gegner Tusk dessen angebliche "dunkle" Verbindungen nach Deutschland vor. Der Premier, der nur dank deutscher Unterstützung die Wahl gewonnen habe, habe auf Reparationen aus Deutschland verzichtet und realisiere eine deutsche Agenda, so Kaczynski.
Das Rennen um den Präsidentenpalast bleibt allem Anschein nach bis zur letzten Minute spannend. Die neuesten Umfragen sehen die beiden wichtigsten Kontrahenten - KO und PiS - fast gleichauf.
Auf der Großkundgebung in Warschau zwei Wochen vor der Parlamentswahl im Oktober 2023 hatte Tusk ein feierliches Gelöbnis abgelegt. "Ich verspreche Euch, dass wir siegen, dass wir abrechnen (mit der Vorgängerregierung), dass wir das Unrecht wiedergutmachen und dass wir versöhnen", schwor er vor einer Million Anhänger. Lediglich das erste Versprechen sei eingelöst, schreibt Kommentatorin Katarzyna Sadlo in Rzeczpospolita.