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Erstarken der AfD bereitet Migranten in Ostdeutschland Sorge

6. Juli 2023

Erst ein Landrat, nun ein Bürgermeister – die AfD wird im Osten Deutschlands immer stärker. Und Rassismus im Alltag werde spürbarer, berichten Hilfsorganisationen. Menschen mit Migrationsgeschichte sind in Sorge.

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Menschen feiern und applaudieren
Jubel der AfD nach dem Sieg bei der Landratswahl in ThüringenBild: Jacob Schröter/IMAGO

Schock. Entsetzen. Angst. Es sind diese drei Begriffe, die immer wieder fallen, wenn Elisa Calzolari über die Reaktionen von Migrantinnen und Migranten auf die jüngsten Wahlerfolge der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland, AfD, spricht. Zunächst der Sieg bei der Landratswahl in Sonneberg in Thüringen, dann der erste gewählte AfD-Bürgermeister in Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt - auch die Geschäftsführerin von MigraNetz Thüringen hat auf viele drängende Fragen ihrer Community nicht wirklich eine Antwort.

"Wie kann denn sowas passieren? Warum wollen uns diese Menschen nicht? Warum richtet sich diese Wut nun primär gegen uns als Menschen mit Migrationsbiografie, die eine große Vielzahl an Ressourcen und Kapazitäten mitbringen? Wieso gab es denn keinen gesellschaftlichen Aufschrei, keine Empörung? Warum ist in Thüringen niemand auf die Straße gegangen?"

In Politik, Unternehmen oder Verwaltung kaum vertreten

54 Organisationen sind in dem Landesnetzwerk vertreten, das seit acht Jahren die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen von Migrantinnen und Migranten in Thüringen vertritt. Der Afrikanisch-Deutsche Verein für Kultur und Bildung ist dabei. Die Ausländerbeiräte von Erfurt, Eisenach und Weimar. Oder auch die Jesidische Gemeinschaft Thüringen. 54 Mitglieder, durchaus eine Hausnummer. Für Calzolari ist es trotzdem oft ein wenig ein Kampf auf verlorenem Posten, beteuert sie gegenüber der DW.

Elisa Calzolari - Geschäftsführerin von MigraNetz Thüringen
Elisa Calzolari Bild: Privat

"Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte oder Menschen, die eine andere Hautfarbe haben, sind nicht sichtbar in der Gesellschaft in Thüringen oder in Ostdeutschland allgemein. Wir haben zum Beispiel nur eine Abgeordnete in Thüringen mit Migrationsbiografie, die auch noch ursprünglich aus dem Westen kommt." Wenn aber Menschen nicht sichtbar seien, dann könnten sie natürlich auch in der Gesellschaft nicht teilhaben. "In den großen Unternehmen und Verwaltungsstrukturen gibt es kaum Menschen mit Zuwanderungsgeschichte."

Lieber nach Erfurt, Jena oder gleich in den Westen

Und daran dürfte sich auch in Zukunft wenig ändern, wenn Menschen mit Migrationsgeschichte lieber aus Thüringen wegziehen, weil sie sich im Osten Deutschlands schlichtweg nicht willkommen fühlen. Ein Teufelskreis. Elisa Calzolari berichtet von ganzen Landstrichen, die einfach aussterben, während  viele Bürger als ersten Schritt lieber in die größeren Städte wie Erfurt oder Jena gingen. Oder gleich in die westdeutschen Bundesländer, wo sie keine Exoten seien und weniger diskriminiert würden.

"Es ist der Alltagsrassismus, die Mikroaggressionen, die für viele betroffene Menschen einfach schlichtweg nicht mehr ertragbar sind. All diese Dinge, die nicht direkt greifbar, aber für die Betroffenen äußerst schmerzhaft sind - wie kleine Pfeile, und das jeden Tag. Zum Beispiel die Blicke, die abschätzigen Bemerkungen", sagt die Expertin.

Alltägliche rassistische Nadelstiche

Kira Ayyadi kennt diese Erzählungen vom alltäglichen Rassismus nur zu gut, die muslimfeindlichen und rassistischen Beschimpfungen, die kontinuierlichen kleinen Nadelstiche oder auch die Hitlergrüße, wenn gerade niemand hinschaut. Auf der Straße, im Supermarkt, vom Busfahrer. Sie arbeitet für die Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich seit 25 Jahren gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland einsetzt. Der Aufschwung der AfD im Osten hat auch Ayyadi erschrocken, aber nicht wirklich überrascht, sagt sie der DW. 

Frau
"Ein gefestigtes rechtes Milieu, das sich von der Demokratie abgewandt hat" - Kira Ayyadi von der Amadeu-Antonio-StiftungBild: Christina Hogg

"Seit Jahren ereilen uns Hilferufe aus der ostdeutschen Zivilgesellschaft. Wir müssen einfach akzeptieren, dass Teile der deutschen Bevölkerung rassistische und teilweise auch rechtsextreme Positionen teilen. Das will man vielleicht so nicht wahrhaben, weil es das Bild der deutschen Bevölkerung nicht gut aussehen lässt. Aber ich glaube, das ist einfach die Wahrheit", sagt Ayyadi.

Studie über Ostdeutschland befeuert Debatte

Untermauert wurde dies gerade durch die Ergebnisse einer Studie für Ostdeutschland, welche hierzulande beinahe genauso viele Wellen schlug wie die jüngsten Erfolge der AfD auf kommunaler Ebene. Die schockierenden Resultate der Untersuchung des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig: Fast 70 Prozent stimmten der Aussage "Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen" zu, jeder Zweite befürwortet eine starke Partei, welche "die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert", und 60 Prozent der Ostdeutschen halten Deutschland für "überfremdet". Ein Armutszeugnis für unsere Demokratie, meint Kira Ayyadi, mit weitreichenden Folgen.

Protestzug
"Widerstand lässt sich nicht verbieten" - Protest gegen die Regierungspolitik in Frankfurt an der Oder im Oktober 2022Bild: Patrick Pleul/dpa/picture alliance

"Zivilgesellschaftliche Akteure und Initiativen in Ostdeutschland, die sich für eine offene Demokratie einsetzen und Antirassismus-Arbeit leisten, haben einfach Angst und Sorge vor Angriffen."

Europa schaut auf Chemnitz

Auch Europa dürfte in diesem Moment ganz genau hinschauen, was da gerade in Ostdeutschland passiert, denn die sächsische Metropole Chemnitz ist 2025 europäische Kulturhauptstadt. Das Letzte, was man gebrauchen kann, sind Vorfälle wie vor drei Monaten, als in Chemnitz eine englischsprachige Reisegruppe offenbar von rechten Schlägern attackiert wurde. Kira Ayyadi war neulich dort auf einer Informationsveranstaltung eingeladen, viele Menschen seien angesichts des Alltagsrassismus in Tränen ausgebrochen, erzählt sie. Ayyadi appelliert deswegen an die Politik, Minderheiten im Osten mehr zu schützen.

Menschen mit Plakat "Kein Platz für Nazis"
"Kein Platz für Nazis" - Proteste der Zivilgesellschaft in Chemnitz Bild: HärtelPRESS/IMAGO

"Wir als Gesellschaft müssen uns fragen, wie sicher People of Color in Ostdeutschland sind. Inwieweit kann die Bundesregierung oder können die Kommunen guten Gewissens noch geflüchtete Menschen in ostdeutsche Kommunen stecken und dort unterbringen? Und wie sicher sind sie dort, wenn wir sehen, wie hoch das Ausmaß rechter Gewalt in Ostdeutschland ist?"

Hass auf Muslime dort, wo kaum welche leben

Erklärungen für den Höhenflug der AfD in Ostdeutschland haben gerade Hochkonjunktur. Für die Opposition ist vor allem die Politik der Regierungskoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und liberaler FDP mit dem ewigen Hin und Her beim Heizungsgesetz dafür verantwortlich. Die Regierung sieht die konservative Union aus CDU und CSU in der Pflicht, nicht mehr rechte Positionen der AfD zu übernehmen und diese salonfähig zu machen. Und Politikwissenschaftler verweisen auf die Historie der DDR, in welcher der Faschismus nie wirklich aufgearbeitet wurde, den Frust nach der Wendezeit und die vermeintliche Abwertung Ostdeutschlands bis heute. 

Für Aiman Mazyek sind es aber auch die Medien, welche die AfD mit ihrer Berichterstattung hochgeschrieben haben. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland kritisiert gegenüber der DW die ständige negative Islamberichterstattung, die ausgerechnet in der Region Deutschlands Früchte trägt, in der teilweise Musliminnen und Muslime nur "im Promillebereich" ansässig seien.

Aiman A. Mazyek Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD)
"Die vierte Gewalt im Land wird bei der ganzen Diskussion um die AfD ausgenommen" - Aiman MazyekBild: Christoph Strack/DW

"Trotzdem haben wir dort einen besonders ausgeprägten Islamhass und Hass auf Muslime", sagt er. "Das macht deutlich, dass der Rassismus gegenüber diesen Gruppen nichts mit der tatsächlichen Realität zu tun hat. Sondern es sind Bilder, die in den Stammtischen und sozialen Medien geschürt werden." 

Medien, Kirche und Religionsgemeinschaften in Verantwortung

Was Mazyek Hoffnung macht, sei das starke zivilgesellschaftliche Engagement im Osten Deutschlands. Wie die Großdemonstrationen bei Parteitagen der AfD, wenn viele Menschen dem Rassismus die rote Karte zeigten. Ein Zeichen dafür, dass die Zivilgesellschaft noch funktioniere. Doch der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime ist auch durchaus selbstkritisch, was den Erfolg der AfD im Osten Deutschlands angeht.

"Wir haben auch als Kirchen und Religion in Teilen versagt, weil wir diese Orientierungslosigkeit, die seelischen Frustrationen und die Angst vor der Komplexität von Welt und globalen Zusammenhängen kaum auffangen konnten", so Mazyek. "Und so haben sich viele Menschen den rechten Scharlatanen zugewandt und sind dafür sogar bereit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, von denen sie selbst profitieren, zu opfern."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur