Streit um Wählerunterdrückung in den USA
22. Oktober 2020Die Bilder gingen um die Welt: Da bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl in den USA eine Rekordzahl von Wählern vorzeitig wählen, haben sich in Staaten wie Virginia, Texas und Georgia zehntausende Menschen in lange Warteschlangen eingereiht. Erst nach mehreren Stunden können sie ihre Stimme abgeben. Von Europa bis Asien reagieren Beobachter mit Fassungslosigkeit.
Viele Wähler jedoch hatten mit solch langen Wartezeiten gerechnet. Nach Angaben des US Elections Project des Politikwissenschaftlers Michael McDonald haben schon mehr als 46 Millionen Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. In einer tief gespaltenen Nation scheint die Bedeutung einer Stimmabgabe bei der diesjährigen Wahl eine der wenigen Dinge zu sein, über die US-Amerikaner noch Einigung erzielen können.
Vergangene Woche, an einem schwülen Nachmittag in einem nördlich von Atlanta gelegenen Vorort: Eine Afroamerikanerin wartet geduldig in einem Klappstuhl, auf den ein Sonnenschutz montiert ist, der die Mittagssonne abhält. Sie hat bereits fünf Stunden Wartezeit hinter sich. "Das ist eine extrem wichtige Wahl", sagt sie der DW. "Es passieren so viele Dinge in der Welt, und ich glaube, viele Menschen wollen, dass ihre Stimme gehört wird."
Doch wessen Stimme Gehör findet, darüber ist eine erbitterte Auseinandersetzung im Gange - mit Georgia als zentralem Austragungsort.
Was ist eine freie und faire Wahl? Bei diesem Thema sind im letzten Jahrzehnt Demokraten und Wähler-Lobbygruppen immer wieder mit Republikanern und Amtspersonen aneinander geraten. Wahlrechtsorganisationen wie Fair Fight und Common Cause zufolge sind die unfassbar langen Schlangen bei der vorzeitigen Stimmabgabe im Staat ein Beispiel für Wählerunterdrückung: Die Stimmabgabe bestimmter Bevölkerungsgruppen wird behindert.
Georgia "verstärkt Anstrengungen"
Laut einer von Jonathan Rodden, Politikwissenschafter an der Stanford-Universität, erstellten Studie, die auf Daten des Radio- und Fernsehsenders Georgia Public Broadcasting (GPB) sowie von ProPublica, einer Gruppe von Investigativ-Journalisten, basiert, betrug in Wahllokalen, in denen mehr als 90 Prozent der aktiven, registrierten Wähler zu Minderheiten gehörten, die durchschnittliche Mindestwartezeit 51 Minuten; in Wahllokalen hingegen, in denen mehr als 90 Prozent der registrierten Wähler Weiße waren, fiel dieser Durchschnittswert auf sechs Minuten.
"Georgia verstärkt immer wieder seine Anstrengungen, Schwarze von der Wahl abzuhalten, ebenso wie Latinos und Amerikaner asiatischer Herkunft," sagt Carol Anderson der DW. Sie ist Professorin für Afroamerikanische Studien an der Emory-Universität in Atlanta und Autorin des Buches "One Person, No Vote: How Voter Suppression is Destroying Our Democracy" ("Eine Person, keine Stimme: Wie Wählerunterdrückung unsere Demokratie zerstört"; keine deutsche Ausgabe). Die Angehörigen aller drei Minderheiten stimmen laut Anderson vorwiegend für die Demokraten.
"Die Erfahrung lehrt uns, dass das derzeitige System nicht dazu dient, das Wahlrecht zu würdigen und zu akzeptieren, sondern dass es auf verschiedenen Wegen systematisch dazu führen soll, es auszuhebeln."
Für die Republikaner jedoch sind die langen Wartezeiten das Ergebnis von Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, z.B. das Einhalten von Abständen, sowie von schlechter Planung.
"Der Gedanke, dass es heutzutage noch Wählerunterdrückung geben soll, ist schlicht ein Mythos - ein Märchen, das von gewissen Leuten in die Welt gesetzt wird, damit sie eine Erklärung für ihre Wahlniederlagen haben", so Hans von Spakovsky gegenüber der DW. Er ist leitender Jurist am konservativen Think Tank Heritage Foundation und arbeitet als Anwalt für die Republikaner. "Es gibt diese langen Warteschlangen, weil die Menschen den Fehler machen, vorzeitig abstimmen zu wollen, anstatt es am Wahltag zu tun, wenn ihnen viel mehr Wahllokale offenstehen." In den letzten Jahren wurden jedoch ProPublica zufolge zehn Prozent der Wahllokale in Georgia geschlossen, und solche Maßnahmen erwecken in einem Bundestaat mit einer langen Geschichte ethnischer Diskriminierung Besorgnis.
Wählerbehinderung mit Tradition
Im späten 19. sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Afroamerikaner in allen Südstaaten den so genannten Jim-Crow-Gesetzen unterworfen, die die Rassentrennung festschrieben. Afroamerikaner wurden durch Gewalt und Einschüchterung physisch an der Stimmabgabe gehindert und mit Wahlsteuern und undurchführbaren Bildungstests legal ausgebremst: Beispielsweise sollten sie Auszüge aus der Verfassung vortragen oder erraten, wie viele Seifenblasen ein Stück Seife erzeugen kann.
Das Wahlrechtsgesetz (Voting Rights Act) von 1965 setzte diesen Praktiken ein Ende und verlangte von Bundesstaaten mit einer Tradition der Rassendiskriminierung die Zustimmung der US-Zentralregierung bei jeder Art von Änderung der Wahlgesetze.
2013 kippte der Oberste Gerichtshof diese Gesetzesregelung wieder und bereitete so den Boden dafür, dass die Einzelstaaten unabhängig vorgehen konnten.
Dem gemeinnützigen liberalen Think Tank Brennan Center for Justice zufolge haben einige Bundesstaaten Maßnahmen ergriffen, durch die die Vorgaben zur Wähleridentifizierung verschärft, inaktive Wähler aus den Verzeichnissen gestrichen und Wahllokale zusammengelegt werden. Vordergründig soll mit diesen Maßnahmen sichergestellt werden, dass niemand seine Stimme illegal abgibt.
Laut Anderson nehmen sie jedoch in unfairer Weise Schwarze und Immigranten ins Visier: Streichungen führten dazu, dass rechtmäßig registrierte Wähler aus den Verzeichnissen entfernt wurden; die Reduzierung der Wahllokale macht es für ärmere Amerikaner schwieriger, Zugang zu solchen zu erhalten, und strengere Identitätsnachweisbestimmungen für die Wähler stellen eine Barriere dar für jene Millionen Amerikaner, die über keine von der Regierung ausgestellten Papiere verfügen.
"Das ist Teil des subtilen, bösen Zeitgeistes der Identitätsnachweisbestimmungen für Wähler - es hört sich alles vernünftig an", sagt Anderson. "Aber das ist es nicht, und es basiert auf einem Fundament aus Lügen. Die Lüge heißt massiver, ungezügelter Wählerbetrug."
Warnungen vor Wählerbetrug: Politische Taktik?
Wählerbetrug, also die Stimmabgabe nicht Wahlberechtigter oder die mehrfache Stimmabgabe, ist in der Tat zum Schlachtruf vieler Republikaner geworden. US-Präsident Trump hat wiederholt behauptet - ohne Beweise vorzulegen -, dass allgemeine Briefwahl zu großflächigem Betrug führe.
Im September verkündete Georgias geschäftsführender Regierungsbeamter Brad Raffensperger, dass der Bundesstaat 1000 Fälle identifiziert habe, in denen Wähler bei den Präsidentschafts-Vorwahlen im Juni ihre Stimme zweimal abgegeben hatten.
Ihren eigenen Zahlen zufolge hat die Heritage Foundation in den letzten Jahrzehnten bei mehr als einer Milliarde abgegebener Stimmen lediglich etwa 1300 bewiesene Fälle von Betrug erfasst. Vor kurzem hat jedoch der öffentlich-rechtliche Sender PBS gemeinsam mit den Investigativjournalisten von Columbia Journalism Investigations (CJI) ermittelt, dass es sich bei vielen dieser Fälle in Wahrheit nicht um Betrug handelt. Hans von Spakovsky - eine der wichtigsten konservativen Stimmen, wenn es darum geht, im Namen der Republikaner das Thema Wählerbetrug auf den Tisch zu bringen -, sagt dennoch, diese seien nur die Spitze des Eisberges: Er verweist auf eine andere Studie, vorgelegt von der gemeinnützigen Organisation Public Interest Legal Foundation (PILF), laut der es allein 2016 und 2018 insgesamt 140.000 Fälle von Wählerbetrug gab.
"Es gibt viele Fälle von Betrug, denen Wahlbeamte nachgehen sollten, aber sie tun einfach nichts", sagt er.
Bundeswahlbeamte wehren sich weiterhin gegen Behauptungen, dass es bei Wahlen in den USA zu systematischem Betrug kommt. Darüber hinaus unterstreicht die bisher extrem hohe Wahlbeteiligung, wie bedeutsam es ist, dass noch mehr Amerikaner ermutigt werden, in der kurzen, noch verbleibenden Zeit ihre Stimme abzugeben.
"Es ist problematisch, den Wählern zu erzählen, dass sie eine schwierige Erfahrung machen werden, dass sie bei der Wahl eingeschüchtert werden könnten und dass Wählerbetrug weit verbreitet ist. All das ist nicht wahr", sagt David Becker, Gründer des überparteilichen Center for Election Innovation and Research (CEIR), das mit Wahlleitern zusammenarbeitet, der DW.
"Eine Sache ist wirklich wichtig zu verstehen für Wähler in den USA - und auch für die, die aus dem Ausland auf uns schauen: Sehr wahrscheinlich werden sie, wenn sie wählen gehen, feststellen, dass es ein einfacher Vorgang ist."
Adaption: Werner Schmitz