Wahl des Herzens
15. April 2004Vor zehn Jahren standen die Menschen in Südafrika in kilometerlangen Schlangen. Stundenlang, manche sogar den ganzen Tag. Die Stimme des Township-Bewohners war zum ersten Mal genauso viel wert wie die Stimme des weißen Bankdirektors. Es waren die ersten freien und demokratischen Wahlen in der Geschichte Südafrikas, und sie besiegelten das Ende der Rassentrennung. Die Wähler stimmten mit einer überwältigenden Mehrheit für den Afrikanischen Nationalkongress (ANC), und sie machten Nelson Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten Südafrikas. Zehn Jahre später ist die Euphorie über die Freiheit verflogen, Demokratie als Staatsform wird fast schon als normal hingenommen. In den Diskussionen von heute fallen immer wieder die gleichen Schlagwörter: Arbeitslosigkeit, Armut, Kriminalität, Aids. Genau in dieser Reihenfolge.
"Vielleicht ändert sich etwas"
Sana sitzt auf einer Bank vor dem Bahnhof im Johannesburger Stadtteil Mayfair. Fast alle Menschen, die an dieser Station aussteigen, leben im Township Soweto und arbeiten hier als Hausangestellte, Handwerker oder Gärtner. Die Zugfahrt von Soweto nach Mayfair dauert etwa 40 Minuten. Früher war das Viertel ein Stadtteil für die weiße Mittelschicht, heute leben hier vor allem südafrikanische Inder und Familien aus der neuen schwarzen Mittelklasse. Die 52-Jährige auf ihrer Bank wünscht sich nichts sehnlicher als auch so gut zu leben. Aber ihr Zuhause ist immer noch ein winziges Ziegelhaus ohne Toilette und fließendes Wasser. Sie wartet auf ein neues Haus. Ihre beiden Söhne finden trotz Ausbildung keine Arbeit.
Sana teilt ihr kleines Haus mit ihren Söhnen. Die beiden Töchter sind verheiratet und leben bei ihren Männern. Sana schaut auf die Uhr. Noch zehn Minuten, dann muss sie bei der indischen Familie sein, bei der sie für umgerechnet 150 Euro im Monat arbeitet. Ob sie zur Wahl geht? Die Witwe nickt. "Ich muss wählen, Südafrika ist doch mein Land. Und vielleicht ändert sich ja was, wenn wir wählen."
Wen sie wählen wird, will sie nicht sagen. Und während Sana sich langsam auf den Weg zur Arbeit macht, sagt Rose ihre Meinung. Die 55-Jährige ist auch Hausangestellte in Mayfair und lebt genauso wie Sana in Soweto. Auch Rose ist alles andere als zufrieden, aber sie will dem ANC und Präsident Thabo Mbeki noch eine Chance geben: "Wir kämpfen ums Überleben. Nirgendwo gibt es Jobs. Aber wir müssen wählen gehen. Und ich werde den ANC wählen. Leider schafft er keine neuen Arbeitsplätze, aber vielleicht kommt das ja noch. Wenn er nichts tut, wählen wir ihn beim nächsten Mal nicht mehr."
"Es wird besser, es wird schön"
Ein junger Mann mit einem Bollerwagen voll Zigaretten kommt zu seinen Kunden. Es sind Tagelöhner. "Möchte jemand Zigaretten?", fragt der 23-ährige Arsan. Ein paar kramen Kleingeld aus ihren Hosentaschen. Sie wissen, dass der Bollerwagenmann seine Zigaretten auch einzeln verkauft. Arsan hat nach der Schule keine Arbeit gefunden. Dann hat er sich Geld geliehen, ein paar Stangen Zigaretten und seinen Handkarren gekauft und sich selbständig gemacht. Das Geschäft läuft gut, versichert Arsan. Zehn Jahre sind nicht genug Zeit, um dafür zu sorgen, dass es allen besser geht, glaubt Arsan. Er wählt in diesem Jahr zum ersten Mal. Er wird den ANC wählen. Warum? "Sie sorgen dafür, dass es uns besser geht. Sie haben uns den Frieden geschenkt, bei uns ermorden sich die Menschen nicht wie in anderen afrikanischen Ländern. Es wird alles besser, es wird schön", sagt Arsan.
Das mit dem Frieden sieht Mannie ganz anders. Er ist Metzger und einer der ganz wenigen weißen Geschäftsleute, die in Mayfair geblieben sind. In seinem Laden dröhnt Hardrock aus den Lautsprechern. Ich bin kein Rassist, sagt Mannie, aber Südafrika geht den Bach runter, seit die Schwarzen das Land regieren. Er knöpft sein Hemd auf und zeigt eine vernarbte Schusswunde, direkt unter dem linken Schlüsselbein. "Der Wandel im Land ist dramatisch, Recht und Gesetz existieren nicht mehr. Mir geht es schlechter als vorher. Keiner hat mehr Achtung vor der Polizei. Es gibt keine anständigen Gesetze, es gibt keinen Respekt, keine Disziplin. Jeder macht, was er will. Ich bin letztes Jahr angeschossen worden. Ich habe Glück, dass ich noch lebe. Und ich denke darüber nach abzuhauen."
"Völlig außer Kontrolle"
Der 33-jährige Metzger will, dass die Todesstrafe wieder eingeführt wird. Und deshalb wählt er die rechtsextreme weiße Partei Nationale Aktion. Die NA wirbt auf Afrikaans - der Sprache der weißen Südafrikaner - mit dem Slogan "Fang ulle, hang ulle" - fangt sie und hängt sie. "Dann würde ich mich sicherer fühlen", sagt Mannie. Gleich neben seiner Metzgerei gibt es ein kleines Getränkegeschäft. Hier steht Mitbesitzer John hinter der Kasse, er ist zehn Jahre älter als Mannie und ebenfalls weiß. "Die Kriminalität ist völlig außer Kontrolle. Als Geschäftsmann lebst du hier gefährlich. Du musst immer wachsam sein. Aber ansonsten läuft es ganz gut, man kann in Südafrika immer noch gut leben."
John wird für die reformierte Neue Nationale Partei stimmen - für die Nachfolgerin der alten Apartheid-Partei. Er hofft, dass seine NNP nach der Wahl die zweite Kraft im Land ist. Genau das ist wohl auch das einzig spannende an diesen dritten freien Wahlen in Südafrika: Wer wird die zweite Kraft? Denn zehn Jahre nach dem Ende der Apartheid steht der ANC, die Partei von Nationalheld Nelson Mandela und von Präsident Thabo Mbeki, als Sieger fest. Die Menschen ärgern sich zwar über eine Arbeitslosenquote von 42 Prozent. Sie ärgern sich darüber, dass es für fünf Millionen HIV-Infizierte und Aids-Kranke noch immer keine staatliche Versorgung mit lebensverlängernden Medikamenten gibt. Und sie ärgern sich darüber, dass die Hälfte der Südafrikaner noch immer unter der Armutsgrenze lebt. Aber die große Mehrheit der 20 Millionen registrierten Wähler ist schwarz und wird mit dem Herzen wählen. Für die Partei ihrer Befreiung. Und genau damit, mit dem Sieg über die Apartheid, hat der ANC bis zum Schluss ungeniert Wahlkampf gemacht. Alle Meinungsumfragen prophezeien der Regierungspartei deutlich über 60 Prozent.