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Wagner im Dschungel

Das Interview führte Soraia Vilela24. April 2007

Star-Regisseur Christoph Schlingensief inszeniert Richard Wagners "Der fliegende Holländer" im Opernhaus von Manaus. Das prunkvolle Gebäude kennt man aus Werner Herzogs "Fitzcarraldo" mit Klaus Kinski als Kautschukbaron.

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Porträt Christoph Schlingensief
Christoph SchlingensiefBild: dpa

Brasilien Christoph Schlingensief Aufführung von Richard Wagner Oper in Amazonas
Richard Wagners Oper "Der fliegende Holländer" in der Neuinszenierung durch den Berliner Regisseur Christoph Schlingensief im Teatro AmazonasBild: picture-alliance/ dpa

DW-WORLD: Eine Sopranistin, die in Manaus gesungen hat, behauptete neulich, es sei "eine extreme Erfahrung" gewesen, in der Stadt zu singen. Ist es für Sie auch "extrem" gewesen, in Manaus zu arbeiten?

Christoph Schlingensief: Es war extrem und deshalb auch so produktiv. Immer nur unter deutschem Kantinenlicht zu sitzen macht einen blind. Wir waren jetzt fast drei Monate hier und ich möchte keinen Tag vermissen.

Trotz "Festival de Opera" ist das Publikum in Manaus wesentlich weniger vertraut mit Operninszenierungen als das europäische. War das für Sie ein Vorteil?

Nein.

Haben Sie die brasilianischen Mitspieler mit Wagner konfrontiert? War es Ihnen wichtig, dass die Mitspieler Wagner überhaupt kennenlernen? Oder gab es keine Zeit dafür?

Wenn man zwei Monate probt, die Mitspieler, Techniker, Favela-Bewohner Wagner hören, dann ist das nichts besonderes. Wagner wird hier zur Normalmusik. Er ist nicht so wichtig wie in deutschen Wohnzimmern. Nur in so genannten wagnerianischen Kreisen versucht man ihn antiseptisch zu halten. Das interessiert hier niemanden.

Auf der Bühne Samba, afro-brasilianische Rituale, Armut und Frauen im Bikini. Warum so viele Brasilien-Klischees?

Armut als Klischee? Was soll so eine Frage? Haben Sie mal gesehen, wie viele Leute hier nachts auf der Strasse schlafen? Soll das ein Klischee sein?

Können Sie sich vorstellen, die Mitspieler aus der Manaus-Inszenierung nach Deutschland zu bringen, um diese Wagner-Samba-Version dem deutschen Publikum zu präsentieren?

Die Aufführung geht nach São Paulo, dann wahrscheinlich auch nach Deutschland und Wien. Da die Aufführung ein großer Erfolg ist, wurden wir vom Kultursekretär Amazonas bereits für nächstes Jahr wieder nach Manaus eingeladen.

Bei den Filmzitaten greifen Sie auf Pasolinis "Salò" zurück und nicht auf Herzogs "Fitzcarraldo", was denkbar wäre. Warum hat Brasilien Sie inspiriert, an Pasolinis "120 Tage von Sodoma" zu denken?

Über Brasilien im Großen kann ich nichts sagen, aber die Kolonialzeit, sagen wir mal, die Kautschukzeit von Manaus, war eine Zeit, in der alles einem Lager glich. Da gab es steinreiche Industrielle, eine Ufo-Oper und Bordelle, Kindersex, Perversion, selbst heute leidet dieses Gebiet noch unter Sextourismus. Die Fluggesellschaft Varig hat gerade eine Kampagne, in der sie Kindersex zum Thema macht. Kinski hat den Dschungel mit Wagner beschallt. Mit einem Grammophon. Wir waren mit einem ganzen Orchester unterwegs. Und die Schiffe aus Fitzcarraldo liegen hier in Massen am Hafen. Mich interessiert mehr der Gedanke einer Zwangsoper als der einer Privatoper.

Die Medienberichte in Deutschland über "Der fliegende Holländer" drehten sich zum Großteil um Manaus als Szenarium. Wagner rückte in den Hintergrund. Haben Sie die Absicht gehabt, eher Brasilien und weniger Wagner zu präsentieren?

Die Geisterwelt von Wagner und die Geisterwelt des Amazonas passen grandios zusammen. Das wollte ich zeigen und das ist geglückt.

Der brasilianische Schriftsteller Milton Hatoum, der aus Manaus kommt, sagt, die Stadt und der Urwald seien "zwei getrennte Szenerien, zwei durch den Fluss getrennte Lügen". Sie waren ja mehr als zwei Monate in der Stadt. Wie finden Sie diese Beschreibung?

Der Unterschied ist nicht der Fluss. Das ist Quatsch. Es gibt auch einen Großstadtdschungel. Und Manaus hat über 1,8 Millionen Einwohner. Ich finde den Urwald melancholisch und knochenwahr. Die Stadt versucht immer noch darüber hinwegzutäuschen. Die andere Seite wartet auf ihren Angriff. Deshalb waren wir auch so oft auf der anderen Seite - im Urwald.