Stockender Friedensprozess auf Mindanao
6. Januar 2017DW: Frau Lorch, im Süden der Philippinen kam es zu einem der größten Gefängnisausbrüche der Landesgeschichte. Angeblich sollen rund 100 bewaffnete Rebellen, die zu einer Splittergruppe der Moro Islamic Liberation Front (MILF) gehören, dabei ihre Anführer befreit haben. Die MILF ist doch eigentlich stark eingebunden in den Friedensprozess auf Mindanao. Was sagt dieser Ausbruch über den Friedensprozess insgesamt?
Jasmin Lorch: Zunächst muss man vorsichtig sein, denn es gibt auch Führungskader der MILF, die dieser Deutung widersprochen haben, dass eine ihrer Splittergruppen oder einer ihrer Kommandeure für den Ausbruch verantwortlich war. Gleichzeitig ist es natürlich so, dass es diese Zuschreibung gibt und dass es in der Vergangenheit immer wieder radikalisierte oder kriminalisierte Elemente innerhalb der Reihen der MILF gegeben hat. Bereits unter der philippinischen Vorgängerregierung von Präsident Aquino war die MILF sehr stark in den Friedensprozess eingebunden. Der neue Präsident Duterte hat bekundet, den Dialog weiterführen zu wollen. Gleichzeitig hat der Friedensprozess für die MILF und die Bevölkerung der Moro bislang noch keine konkreten Verbesserungen gebracht. Das sind natürlich Faktoren, die eine Radikalisierung und Zersplitterung von Gruppen innerhalb der MILF begünstigen.
Der Konflikt in Mindanao entzündet sich ja nicht nur daran, dass es eine christliche Mehrheit und eine muslimische Minderheit gibt, sondern es geht auch um Landrechte und um Armut. Ein Friedensabkommen ist ausgehandelt, aber woran hakt es jetzt? Warum geht es nicht voran?
2014 ist ein Friedensabkommen erzielt worden, aber es bedarf eines Implementierungsgesetzes. Erst durch ein solches Gesetz würden die Autonomierechte, die die MILF für sich herausgehandelt hat, in Kraft treten. Unter der Aquino-Regierung wurde bereits ein Implementierungsgesetz ausgearbeitet: das "Bangsamoro Basic Law" (BBL). Es wurde aber bis heute nicht verabschiedet. Das heißt, dass der Friedensvertrag besteht, dass die Duterte-Regierung den Dialog weiterführen will, dass sich aber im Alltag für die Bevölkerung noch nichts verändert hat. Die Reform der Verwaltung, die Übertragung von Verantwortlichkeiten, all das hat noch nicht stattgefunden.
Die MILF selbst steht dem ganzen Prozess mehrheitlich offen gegenüber. Sie hat sogar der Regierung ihre Unterstützung bei der Suche nach den flüchtigen Häftlingen zugesagt. Wenn es wirklich abtrünnige Gruppierungen waren, die den Ausbruch durchgeführt haben, scheinen sie eher klein zu sein. Trotzdem können sie eine schwerbewaffnete Hundertschaft auf die Beine stellen und ein Gefängnis stürmen. Können sie auch den Friedensprozess insgesamt gefährden?
Wenn man sich die derzeitige Führungsriege der MILF anschaut, dann sieht man, dass sie zum großen Teil schon einer älteren Generation angehört, dass sie ein Interesse am Friedensprozess hat, dass sie vielleicht auch schon kriegsmüde ist und diesen Konflikt beendet sehen möchte. Wenn man aber in die unteren Ränge geht, dann gibt es dort auch militantere Kräfte, denen teilweise schon das erzielte Friedensabkommen nicht weit genug geht. Und wenn das dann auch noch nicht implementiert wird, mehrt sich dort natürlich der Unmut. Je länger sich die Implementierung des Friedensprozesses hinzieht, und je länger es dauert, bis die MILF ihren unteren Rängen greifbare Erfolge präsentieren kann, desto größer wird eben das Risiko für solche Absplitterungen. Ich denke, man muss es vor dem Hintergrund sehen, dass dieser Konflikt schon seit mehreren Jahrzehnten besteht und diese Gebiete dadurch auch stark militarisiert sind, und dass bewaffnete Gruppen sich über all die Jahre dort formiert haben und zum jetzigen Zeitpunkt natürlich auch noch nicht entwaffnet sind. Insofern kann auch eine abtrünnige Brigade oder ein abtrünniger Kommandeur, der seine Leute mitnimmt, schon für große Instabilität in der Region sorgen. Solche bewaffneten Übergriffe können wiederum den Friedensprozess insgesamt gefährden, weil sie dazu führen können, dass führende Politiker und Teile der christlichen Mehrheitsbevölkerung den Prozess ablehnen.
Präsident Duterte stammt als erster Staatschef des Landes selbst aus Mindanao, hat mit den verschiedenen Konfliktparteien schon gesprochen und besitzt ausgedehnte Netzwerke dort. Welches Gewicht hat das bei den jetzigen Verhandlungen?
Es ist auf jeden Fall positiv, gerade wenn man sich die Regierungsmethoden des Präsidenten sonst anguckt, dass er da Dialogbereitschaft zeigt. Die strukturellen Probleme des Friedensprozesses auf Mindanao sind aber weitaus tiefgehender, und sie werden nicht dadurch gelöst, dass der Präsident selbst aus Mindanao stammt. So ist etwa immer noch fraglich, ob die philippinische Verfassung ein derart großes Maß an regionaler Autonomie, wie es der MILF im Abkommen zugestanden wurde, überhaupt zulässt. Es gibt eine ähnliche Vorgängervereinbarung, das Memorandum of Agreement on Ancestral Domain (MOA-AD), gegen die vor dem Verfassungsgericht geklagt wurde, und die dann keinen Bestand hatte. Vor dem Hintergrund muss man auch Dutertes Vorstoß sehen, mit dem er sich für ein föderales System auf den Philippinen einsetzt. Das derzeitige System ist ja stark zentralistisch. Das wären aber Verfassungsreformen, und die würden wiederum so lange dauern, dass kein schneller Erfolg im Friedensprozess erzielt werden könnte. Darüber hinaus gibt es große Konflikte zwischen den beiden größten Rebellengruppen MILF und MNLF (Moro National Liberation Front), die teilweise das gleiche Territorium für sich beanspruchen. Auch das könnte eine nachhaltige Friedenslösung blockieren.
Duterte hat auch angekündigt, den Süden wirtschaftlich voranbringen zu wollen. So will er sich von China eine Eisenbahnlinie durch Mindanao sponsern lassen. Könnte das eine Friedenslösung wahrscheinlicher machen?
Wie bei fast jedem Konflikt spielen wirtschaftliche und soziale Nöte auch auf Mindanao eine große Rolle. Aber Großinfrastrukturprojekte in einem Konfliktgebiet sind tendenziell immer mit Vorsicht zu betrachten. Da geht es auch um Fragen wie: Wer kontrolliert welches Gebiet? Oder: Welche bewaffneten Gruppen sind da aktiv? Und natürlich auch: Wer profitiert von solchen Großprojekten? Zielführender wären kleinere Programme, die wirklich konkret versuchen, den Nöten der Bevölkerung zu begegnen, etwa im Bereich von sozialer Sicherung, Anhebung der Lebensstandards, Verbesserung der Landwirtschaft.
Jasmin Lorch ist Politikwissenschaftlerin und Südostasienexpertin am GIGA-Institut für Asien-Studien in Hamburg.