1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Vorsprung durch Technik?

Ronny Blaschke29. August 2012

Die Paralympics sind professioneller geworden - die Athleten stellen in London Rekorde auf, auch dank moderner Prothesen und Rollstühle. Kommt nun das große Wettrüsten - oder sogar Technodoping?

https://p.dw.com/p/15zTx
Blick auf die Prothesen des südafrikanischen Läufers Oscar Pistorius. Foto: Reuters
Mit Prothesen am StartBild: Reuters

Es sind tausende Artikel geschrieben, tausende Berichte gesendet, tausende Fotos geschossen worden, und trotzdem sind wieder hunderte Journalisten gekommen, um jede Regung von Oscar Pistorius aufzunehmen. Der südafrikanische Prothesenläufer ist zu einer Symbolfigur des Sports geworden, weil er wie kein anderer die olympische mit der paralympischen Welt verschmelzen lässt. Pistorius würde das nie bestätigen, höflich beantwortet er alle Fragen im Londoner Pressezentrum: "Nicht die Behinderung eines Sportlers sollte im Mittelpunkt stehen, auch nicht seine technische Hilfe, wichtig sind seine Fähigkeiten und seine Willenskraft." Er lächelt und die Fotoapparate klicken.

Die Paralympics haben ihren Ursprung in der Rehabilitation für Kriegsversehrte, inzwischen sind sie eine professionelle Bühne mit 4200 Athleten aus 165 Ländern. Auch ihnen geht es um Rekorde, Sponsoren, Einschaltquote - und um moderne Technik. Ob Rollstuhl oder Prothese: Wissenschaftler entwickeln Geräte, die den Alltag des Behindertensports erleichtern, aber auch die sportliche Dramatik erhöhen sollen. So mischen sich in den Forschritt kritische Stimmen: Tritt an die Stelle des Trainingsalltags ein Wettrüsten? Vielleicht Technodoping? Im Zentrum der Diskussion: Oscar Pistorius.

Oscar Pistorius im olympischen 400-Meter-Vorlauf. Foto: Reuters
Oscar Pistorius startete vor den Paralympics auch bei den Olympischen SpielenBild: Reuters

80 Techniker arbeiten Tag und Nacht

Im Alter von elf Monaten waren Pistorius beide Beine unterhalb der Knie amputiert worden. Er widmete sich dem Sport, stellte mit Karbonprothesen Rekorde auf. Vor wenigen Wochen nahm er an den Olympischen Spielen teil, scheiterte über 400 Meter erst im Halbfinale. Seine Kritiker sagen noch immer, er sei im Vorteil, da Prothesen leichter als das menschliche Bein sind und sich auf jeden Streckenuntergrund optimieren lassen. Seine Unterstützer entgegnen, dass Prothesen niemals mehr Kraft aufbringen können als das Bein. Pistorius hat sich hunderte Mal verteidigt, er ist höflich geblieben und möchte nun bei den Paralympics seine drei Siege von Peking 2008 wiederholen. Ist sein Fall repräsentativ für das Thema Technik im Behindertensport?

Nein, sagt Rüdiger Herzog, und man merkt seiner anschwellenden Stimme an, dass ihm der Personenkult nicht wirklich gefällt: "Es ist abwegig, dass wie in einer Cyberwelt Prothesenläufer die olympischen Medaillen irgendwann unter sich ausmachen." Herzog arbeitet für Otto Bock, den Weltmarktführer für Prothetik. Seit 1988 organisiert Otto Bock die Werkstätten bei den Paralympics. In London werden achtzig Techniker rund 10.000 Arbeitsstunden leisten, für alle Sportler, die ein Problem mit ihrer Technik haben, mit schlecht laufenden Rollstühlen, zerbrochenen Schlägern, defekten Kniegelenken. "Wir möchten mit technischer Hilfe Chancengleichheit herstellen und eingeschränkte Lebensqualität aufwerten."

Der Faktor Mensch

Geht es nach den Vereinten Nationen, so müssten Sportler mit und ohne Behinderung in denselben Verbänden und Vereinen organisiert sein, denn die UN fordern statt Integration mittlerweile Inklusion: eine Veränderung der Gesellschaft, die eine volle Teilhabe möglich macht. Müsste man angesichts dieser politischen Debatte nicht über einen Streit um Prothesen hinwegsehen - zu Gunsten eines sportlichen Signals für Inklusion? Egal, welchen Sportler man auch fragt, meist lauten Antworten wie jene von Marc Schuh: "Am Ende entscheidet der Faktor Mensch, denn wir trainieren sehr hart."

Marc Schuh. Foto: dpa
Favorit im Rollstuhlrennen über 400 Meter: Marc SchuhBild: picture-alliance/dpa

Der 23-jährige Schuh gehört zu den schnellsten Rennrollstuhlfahrern der Welt, über 400 Meter ist er Favorit bei den Paralympics. Schuh studiert Physik in Heidelberg. Mit seinem Vater hat er ein Messgerät entwickelt, das die Leistungsfähigkeit von Rennrollstühlen analysiert. Sie diskutieren über Rahmen, Räder, Material. Schuh stellt Videos davon ins Internet, für Freunde und Sponsoren. Dass auch seine Gegner zuschauen könnten, ist ihm egal.

Sportler aus Entwicklungsländern haben kaum Chancen

Schuh leidet unter einem Kaudalen Regressionssyndrom, ihm fehlt der untere Teil der Wirbelsäule. Daher hat er in seinen Beinen keine Stabilität. In einem Alltagsrollstuhl hatte Schuh seinen ersten Wettkampf gewonnen, ein Kinderrennen, da war er zehn. Er überredete seine Eltern, einen Rennrollstuhl zu kaufen. Er eilte von Sieg zu Sieg, und mit dem Erfolg wuchs das Gespür für Feinheiten. Die Zusammenarbeit mit den Rollstuhl-Herstellern wurde enger. Die Kosten einer Saison liegen für Schuh bei 35.000 Euro, in einen guten Rollstuhl-Rahmen investiert er rund 5000 Euro. Für dieses Geld braucht er Sponsoren. Für Sponsoren braucht er Erfolg. Und für den Erfolg braucht er: einen guten Rahmen.

Marc Schuh oder Oscar Pistorius haben ein Luxusproblem. Die meisten Athleten haben keinen Zugang zu medizintechnischer Infrastruktur. Zum Beispiel Thin Seng Hon, die einzige Teilnehmerin aus Kambodscha. Ihre Heimat hat die Bevölkerung mit dem höchsten Anteil an Amputierten, wegen der vielen Landminen. Die Unterschenkelprothese der Läuferin hat 2500 Dollar gekostet, bezahlt von Freunden. Thin Seng Hon hat in mehreren Medien dafür geworben, Wildcards an Sportler aus Entwicklungsländern zu verteilen. Tausende Anfragen hatte es gegeben, aber nur 61 Wildcards gingen an 50 Nationen. Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) ist finanziell bei weitem nicht so aufgestellt wie sein olympischer Partner.

Rüdiger Herzog kann dutzende Geschichten von Sportlern erzählen, die in der Paralympics-Werkstatt alte und defekte Gelenke, Prothesen, Rollstühle ausgetauscht haben. Sechzig Prozent der Materialien würden für den Alltag ausgegeben, nur vierzig für den Wettkampf. "Davon werden die Sportler lange profitieren." Vielleicht nicht wie Oscar Pistorius durch Medaillen, Millionen und Ruhm - aber vielleicht durch ein leichteres Leben.