Religiöse Spannungen
20. Januar 2012Kann ein achtjähriges Mädchen unzüchtig gekleidet sein? Müssen Frauen in Bussen in den hinteren Reihen sitzen? Ultra-orthodoxe Juden, Haredim genannt, haben ihre eigenen Vorstellungen von Israel. Sie wollen zum Beispiel Frauen aus dem öffentlichen Leben verdrängen. Um ihre Ziele zu erreichen, scheuen sie auch vor fragwürdigen Aktionen nicht zurück. Ein Schock ging durch Israel, als kürzlich religiöse Demonstranten ihr Land mit Nazi-Deutschland verglichen, weil sich der Staat aus ihrer Sicht zu sehr in ihr Leben einmische. Etwa zehn Prozent der knapp acht Millionen Israelis leben ein streng reglementiertes religiöses Leben und stehen modernen und weltlichen Ideen ablehnend gegenüber. Und immer vehementer treten sie für ihren Lebensstil ein. Dabei machen sie auch nicht vor Kindern halt, wie das Beispiel des Mädchens zeigt, das Anfang Januar auf seinem Schulweg von ultra-orthodoxen Männern angespuckt wurde, weil es angeblich nicht richtig gekleidet war.
Tzvia Greenfield zog 2010 als erste Haredi-Frau für eine linksgerichtete Partei in die Knesset ein. Das ist nicht nur ungewöhnlich, sondern auch mutig, weil sie sich damit gegen den Konservativismus in ihrer Gemeinschaft stellt und sich ein Freidenkertum erlaubt, das bei den Haredim verpönt ist. Heute ist sie Leiterin der Organisation Mifneh, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzt. Greenfield steht ihrer Gemeinschaft sehr kritisch gegenüber, vor allem, was die Haltung gegenüber Frauen betrifft. Sie sieht die Haredim als unfähig zu Kompromissen und betrachtet die Einflussnahme der Ultra-Orthodoxen mit großer Sorge.
"Wenn aus dieser Minderheit eines Tages eine Mehrheit werden sollte, werden wir keine gute Entwicklung nehmen", sagt Greenfiled. Die Haredim haben eine der höchsten Geburtenraten in Israel. Nach den jüngsten Prognosen werden sie bis 2020 etwa ein Fünftel der israelischen Bevölkerung ausmachen. Und dann wird auch ihr politisches Gewicht steigen, selbst wenn viele von ihnen eher unpolitisch sind. Die Haredim leben oft streng abgetrennt in eigenen Siedlungen oder Stadtvierteln, wo ihre konfessionellen Regeln den Alltag bestimmen. Die Kinder gehen in religiöse Schulen, die ein anderes Curriculum als staatliche Schulen haben.
Säkulare Israelis sind besorgt
Liberale Israelis fürchten inziwschen um ihre Rechte und reagieren bei Demonstrationen gegen die Ultra-Orthodoxen mit Slogans wie "Wir wollen kein Teheran werden". Dass es so weit kommt, bezweifelt Roby Nathanson, Leiter des MACRO-Instituts in Tel Aviv. Den liberalen und nicht-religiösen Israelis gehe es darum, ihren Lebensstil zu erhalten und sich nicht in ihren Freiheiten einschränken zu lassen. Hier prallen Lebenswelten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Für die Haredim wiegen die Religion und die Einhaltung ihrer Vorschriften stärker als politische Motive. Viele ultra-orthodoxe Juden lehnen den Staat Israel ab, weil er nach ihrem Glauben nur vom Messias und nicht von Menschen wieder errichtet werden darf. Daher beteiligen sich einige dieser Gruppierungen auch bewusst nicht an der Politik und ihre Mitglieder gehen zum Beispiel gar nicht wählen. Das unterscheidet sie von den orthodoxen Juden, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen und den weltlichen Juden größtenteils offen gegenüberstehen.
Gespaltene Gesellschaft
Nathanson sieht die Spaltung der Gesellschaft gelassen und sagt, dass Konflikte innerhalb der multikulturellen israelischen Gesellschaft bereits seit der Staatsgründung 1948 existierten. Wichtig sei, die jeweils andere Gruppierung und deren Rechte zu respektieren. Das jedoch ist oft ein Drahtseilakt. Mit zunehmenden Ressentiments schauen die etwa 70 Prozent weltlichen Israelis auf die Religiösen, weil diese ihrer Ansicht nach zu viel Unterstützung vom Staat bekommen. Viele Haredim widmen ihr Leben komplett dem Studium der Thora und anderer religiöser Schriften und gehen keinem Beruf nach. Sie werden vom Staat finanziell unterstützt und müssen keinen Dienst in der Armee tun.
Tzvia Greenfield ist überzeugt, dass Kindern und Jugendlichen, aber auch Frauen, eine Schlüsselrolle für Veränderungen zukommt. Wenn diese Zugang zu weltlicher Bildung hätten, würde sich ihr Verhalten ändern. Auch der konservative Radio-Moderator Kobi Arieli glaubt, dass viele junge Haredim ihr Leben nicht in Isolation und Armut verbringen möchten. In der Armee gibt es seit mehr als zehn Jahren Bedingungen, die es Religiösen ermöglichen, Wehrdienst zu leisten. So werden zum Beispiel Mahlzeiten angeboten, die nach ihren Speisevorschriften zubereitet werden. Ähnlich ist es im Ausbildungssektor. Die Zahl der Ultra-Orthodoxen, die die Angebote nutzen, steigt langsam, aber sie steigt.
Ausländische Organisationen kaum berührt
Relativ unberührt von den sozialen Spannungen agieren ausländische Organisationen. Deutsche Institutionen wie das Goethe-Institut oder die politischen Stiftungen sehen sich in ihrer Arbeit von den Aktionen der ultra-orthodoxen Juden in aller Regel nicht behindert. Das mag auch daran liegen, dass die Haredim keine Zielgruppe für die deutsche Zusammenarbeit sind. Nadine Mensel, stellvertretende Büroleiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel, sagt, "dass sich die Stiftung Ziele setzen muss, die erreichbar sind. Wenn man Gesprächspartnern gegenübersitzt, die man mit den Vorstellungen eines demokratischen Israels nicht erreicht, ist eine Zusammenarbeit schwierig."
Tzvia Greenfield glaubt an die Demokratie in Israel, an eine multikulturelle und multinationale Gesellschaft. Sie sieht die säkulare Mehrheit in der Pflicht: die müsse erkennen, dass sie eine Verantwortung habe, Minderheiten in die Gesellschaft zu integrieren. Roby Nathanson formuliert es eher so: "Um das ganze vielfältige System Israel zusammenzuhalten, muss man die Grenzen der einzelnen Gruppen respektieren. Das gilt auch für die ultra-orthodoxen Juden."
Autorin: Sabine Hartert-Mojdehi
Redaktion: Daniel Scheschkewitz