Zeitenwende in deutscher China-Politik?
2. November 2022Am Donnerstag reist Bundeskanzler Olaf Scholz nach drei Jahren chinesischer Abschottungspolitik mit einer Wirtschaftsdelegation nach Peking. China ist Deutschlands größter Handelspartner. Und die deutsche Wirtschaft investiert kräftig im Reich der Mitte. Im September eröffnete der Chemiekonzern BASF im südchinesischen Zhanjiang eine große Produktionsanlage. Bis 2030 sollen zehn Milliarden Euro in das Werk fließen. Rund zwei Drittel des BASF-Wachstums sollen bis Ende der Dekade aus China kommen.
Auch die deutsche Autoindustrie investiert massiv in China. 40 Prozent aller Volkswagen-Autos werden in China verkauft. Nachdem die Vereinten Nationen im Sommer Menschenrechtsverletzungen und Zwangsarbeit in der chinesischen Westregion Xinjiang offenlegten, weigerte sich VW, sein Werk in dieser Region zu schließen.
Vergangene Woche meldete die Nachrichtenagentur Reuters, VW plane ein großes Software-Joint-Venture mit der chinesischen Technologie-Firma Horizon Robotics. Zwei Milliarden Euro sollen demnach investiert werden. Für Aufsehen sorgte vergangene Woche ein weiterer umstrittener Deal mit dem chinesischen Staatunternehmen Cosco. Die Reederei wollte Anteile an einem Containerterminal des Hamburger Hafens erwerben, der als kritische Infrastruktur in Deutschland gilt. Bundeskanzler Scholz, ehemals Hamburger Bürgermeister, setzte das Geschäft gegen mahnende Stimmen von China-Experten und gegen Widerstand im Kabinett durch.
Risikofaktor Taiwan-Konflikt
Begeht Deutschland in Bezug auf China also dieselben Fehler wie in Russland, indem es sich in zu große wirtschaftliche Abhängigkeit von Staaten begibt, die das Völkerrecht offen missachten (wie Russland mit dem Angriff auf die Ukraine) oder indirekt mit militärischer Gewalt zur Durchsetzung ihrer territorialen Ansprüche drohen?
Einmal mehr hat Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping auf dem jüngst zu Ende gegangenen 20. Parteitag der KPCh seine Taiwan-Politik bekräftigt: "Die Wiedervereinigung muss und wird erreicht werden", sagte er und erntete dafür anhaltendem Applaus der rund 2300 Delegierten in der Großen Halle des Volkes. Dies, obwohl die Wiedervereinigung für die Taiwaner immer weniger erstrebenswert ist, und schon gar nicht unter KP-Herrschaft. Aber Xi ficht das nicht an. "Taiwan ist Chinas Taiwan. Die Lösung der Taiwan-Frage ist Sache der Chinesen", sagt er. "Äußere Kräfte" hätten sich darin "nicht einzumischen".
Experten vom Berliner China-Forschungsinstitut MERICS rechnen nicht damit, dass es in den kommenden Jahren zu einem Krieg um Taiwan kommen wird, solange es allen Seiten gelingt, unbeabsichtigte Zusammenstöße zu vermeiden und bei kleineren Konflikten eine Eskalation zu einer großen Konfrontation zu verhindern. "Wenn es aber doch zu einem Krieg kommen würde, stünden sich darin die beiden größten Mächte der Welt, die USA und China, gegenüber, und das in einer Region, die für die Weltwirtschaft noch viel wichtiger ist als Osteuropa", sagt Bernhard Bartsch von MERICS.
Viele Bereiche der deutschen Wirtschaft wären betroffen. China hat ein Marktmonopol im Bereich seltene Erden und Metalle. Von den dreißig Rohstoffen, die die EU als "kritisch" einstuft, werden 19 hauptsächlich aus China geliefert. Sie werden gebraucht für die Herstellung von Smartphones, LED-Lampen, Elektromotoren, Solarzellen oder Computerchips. Die deutsche Energiewende hängt somit maßgeblich von Lieferungen aus China ab.
"Selbstgewählte Abhängigkeit reduzieren"
Trotz dieser geopolitischen Risiken und der Menschenrechtsverletzungen in China baut Deutschland seine wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Land aus. Aber nicht nur die politische Partei Bündnis 90/Die Grünen, die die Außenministerin und den Wirtschaftsminister in der Bundesregierung stellt, fordert, diese Abhängigkeiten zu reduzieren, um sich nicht eines Tages erpressen zu lassen, wie es jetzt Russland versucht. Der Bundesnachrichtendienst warnte vor Kurzem, Deutschland habe sich in eine "schmerzhafte Abhängigkeit" von einer Macht begeben, die "auf einmal nicht mehr wohlgesonnen" erscheine.
"Wir müssen uns aus der selbst gewählten Abhängigkeit Schritt für Schritt befreien, wenn wir nicht Schritt für Schritt unsere Freiheit verlieren wollen", sagt Michael Brand (CDU/CSU). Als Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages besuchte er vergangene Woche Taiwan. China habe "einen totalitären Anspruch", und vertrete ihn "global und zielstrebig". Die USA gehen diesen Schritt bereits. Zuletzt wurden die Exportbeschränkungen für Computerchips nach China deutlich verschärft. Der Konzern Apple möchte in Zukunft mehr in Indien und Vietnam produzieren.
Was kann die "neue China-Strategie" bewirken?
Auch die Bundesregierung hat eine neue China-Strategie für 2023 angekündigt, die Peking gegenüber sehr viel kritischer als unter der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel begegnen soll. Federführend ist das Auswärtige Amt unter Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die China seit Beginn ihrer Amtszeit als "systemischen Rivalen" bezeichnet und Menschenrechtsverletzungen offen anspricht.
Allerdings wurden bereits in den Koalitionsvertrag zwischen den an der Bundesregierung beteiligten Parteien Grüne, SPD und FDP kritische Themen Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang, die Situation in Hongkong, der Taiwan-Konflikt und ein freier Indo-Pazifik-Raum aufgenommen - alles Themen, über die Peking nicht gerne spricht. Doch solange die wirtschaftlichen Beziehungen mit Deutschland florieren, zeigt sich die Regierung Xi Jinpings unbeeindruckt von Ankündigungen einer kritischeren deutschen Chinapolitik.