EU: Polen will Sanktionen und Dialog mit Belarus
18. August 2020Eigentlich hatte Siarhiej Pieliasa gerade seinen Urlaub angetreten. Doch den hat der Redakteur und Moderator des Fernsehsenders Belsat TV nun abgebrochen. Seit den Präsidentschaftswahlen im Nachbarland Belarus hat die Redaktion in der polnischen Hauptstadt Warschau nämlich eine ständige Bereitschaft eingeführt.
Der vom polnischen Staat finanzierte Sender wird in Teilen von Belarus über Satellit empfangen. Seit 2007 ist Belsat TV für viele Menschen dort die einzige unabhängige Informationsquelle.
"Jetzt, während der Proteste, sind wir praktisch von einem Tag auf den anderen zum reinen Informationskanal geworden", erklärt Pieliasa im Gespräch mit der DW. "Alle Redakteure wurden zum Nachrichtenressort delegiert. Die Devise lautet: alle Mann an Deck."
Vor 20 Jahren hat der heute 43-jährige Journalist selbst auf den Straßen von Minsk gegen das Lukaschenko-Regime protestiert. Dann wurde er von der Uni verwiesen und musste in Polen Zuflucht suchen.
Europa soll mehr tun
Mit seinen Sendungen will Pieliasa den Protestlern in seiner Heimat Mut geben. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig dort die Unterstützung des Westens ist. Doch er würde sich wünschen, dass die EU mehr tut, als nur das Wahlergebnis der belarussischen Präsidentenwahl vom 9. August in Frage zu stellen.
"Europa sollte Swetlana Tichanowskaja als Präsidentin anerkennen. Das scheint fast unmöglich - aber es wäre eine richtige politische Entscheidung. Tichanowskaja würde zu einer Interims-Präsidentin werden und dann Neuwahlen ausrufen", sagt Pieliasa.
Polen ist zu Solidarität verpflichtet
Nach offiziellen Angaben hat der seit 26 Jahren amtierende Präsident Alexander Lukaschenko 80 Prozent der Stimmen erhalten. Die Opposition wirft ihm Wahlfälschung vor. Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die offiziell 10 Prozent der Stimmen bekam, musste nach Litauen ins Exil fliehen.
Polen gehörte zu den ersten EU-Staaten, die eine Wiederholung der Wahlen in Belarus forderten. Premierminister Mateusz Morawiecki hält es für eine Pflicht, die Opposition im Nachbarland zu unterstützen: "Polen ist die Wiege der Solidarność und heute erlaubt uns die Solidarität nicht, den brutalen Niederschlagungen der friedlichen Demonstrationen tatenlos zuzuschauen", so Morawiecki. Das sei auch im polnischen Interesse: "Je stärker Belarus ist, desto sicherer ist Polen".
10 Millionen Euro für die Opposition
Im Rahmen des vorige Woche angekündigten polnischen Hilfspakets unter dem Namen "Solidarisch mit Belarus" sollen noch dieses Jahr über 10 Millionen Euro für die belarussische Opposition und unabhängige Medien fließen. Auf dem polnischen Arbeitsmarkt soll es Erleichterungen für Arbeitskräfte aus Belarus geben.
Zudem setzen sich in Warschau viele Politiker lautstark für Sanktionen nicht nur gegen Belarus ein - sondern auch gegen Moskau. "Harte" Sanktionen fordert Jacek Saryusz-Wolski von der konservativen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), der auch Mitglied im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments ist.
Sanktionen gegen Russland?
Saryusz-Wolski schlägt vor, Russland aus dem internationalen Finanzsystem SWIFT auszuschließen. Das hält er für eine "Atomwaffe", die zwar noch nie angewendet worden sei - doch die aktuelle Lage eigne sich für einen Test: "Russland kann es sich nicht leisten, solche Sanktionen zu ignorieren", so der polnische Politiker.
Sanktionen seien ein Weg, Moskau von einer Intervention in Belarus abzuhalten: "Zwar gibt es im Moment Signale, dass Russland nicht einmarschieren wird - aber das kann täuschen, weil es gleichzeitig Informationen über russische Konvois in Richtung Belarus gibt. Eine Variante mit Gewalt kann man nicht ausschließen."
Moskau will die Kontrolle behalten
In der heutigen Lage könnte Europa einen Wandel in Belarus herbeiführen - "doch der Westen hat die ganze Zeit Russland im Hinterkopf. Ein großer Teil des westlichen Europa sieht Belarus in erster Linie als russische Einflusszone", so Saryusz-Wolski gegenüber der DW.
Sanktionen befürwortet auch der polnische Oppositionspolitiker und Ex-Außenminister Radoslaw Sikorski. "Sie sollten sich natürlich gegen einzelne Personen und schon gar nicht gegen die Gesellschaft in Belarus richten", betont er im Gespräch mit der DW.
Begrenzter Einfluss
Sikorski spricht von einem "begrenzten Einfluss des Westens". Minsk und Moskau bildeten immerhin den Staatenbund "Russisch-Belarussische Union" und hätten ihre Militär- und Wirtschaftssysteme aneinander angepasst. "Russland hält Belarus für eine Art Vorfeld und für eine wichtige Verbindung zur Region Kaliningrad". Daher sei der russische Einfluss auf Institutionen und in der Politik "viel tiefer" als etwa in der Ukraine, wo 2004 und 2014 die pro-europäischen Protestler viel Unterstützung aus Europa bekamen.
"In Belarus haben wir mit einer viel stärkeren Tendenz aus Moskau zu tun, den Wandel unter Kontrolle zu halten", erklärt Sikorski. Er meint, dass nach Lukaschenko zwar jemand von der Opposition an die Macht kommen könnte - doch das müsste eine Person sein, "die die wichtigsten sicherheitspolitischen Interessen Moskaus beachtet".
Angst vor Russlands Einfluss
Das polnische Regierungsprogramm "Solidarisch mit Belarus" müsste dringend umgesetzt werden, so Sikorski weiter. "Das Geld muss in diesem Jahr kommen, nächstes Jahr wird es zu spät sein". Vor allem sei es wichtig, unabhängige Medien in Belarus zu unterstützen.
Rückendeckung für die belarussische Opposition ist in Polen kein strittiges Thema. Die Angst vor russischen Einflüssen in der Region ist in fast allen Teilen der Gesellschaft und des politischen Spektrums verankert. Diesen Einfluss möchten alle Politiker in Polen so weit wie möglich entfernt von der Ostgrenze des Landes halten. Und das langfristig.
Zusammenarbeit mit den belarussischen Bürgern
Deshalb fordert Warschau im Vorfeld des EU-Sondergipfels zu Belarus nicht nur Sanktionen, sondern auch eine dauerhafte Lösung. "Wenn Belarus ein System einleiten wird, in dem die Bürger über den Wandel entscheiden werden, dann ist die EU zur Zusammenarbeit bereit - ein solches Signal müsste vom Gipfel in Richtung Minsk ausgehen", erklärt Polens stellvertretender Außenminister Pawel Jablonski.
Der Grund ist für den PiS-Politiker offensichtlich: "Wenn man sich nur auf Sanktionen begrenzt, entsteht die Gefahr, dass Belarus noch tiefer in die russische Einflusszone gerät".