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Politik

Vor dem Brexit kochen die Emotionen hoch

Samira Shackle jdw
15. Januar 2019

Die Briten sind sich über den Brexit ebenso uneins wie ihre Abgeordneten, die an diesem Dienstag über den Austritts-Vertrag abstimmen. Es wächst die Sorge, dass der Rechtsstaat in dem Chaos unter die Räder gerät.

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England: Symbolbild Brexit
Bild: Reuters/C. Kilcoyne

An diesem Dienstag stimmt das britische Parlament über den Brexit-Deal ab, den die Regierung von Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelt hat. Für eine endgültige Entscheidung müsste eine Mehrheit der Abgeordneten den Vertrag annehmen. Doch die Abstimmung steht auf der Kippe. Denn das Parlament ist genauso uneins, wie die Bevölkerung. In Meinungsumfragen sprachen sich ebenso viele Befragte für ein zweites Referendum über den Austritt aus, wie für einen kompromisslosen Austritt ganz ohne Deal. Eine knappe Mehrheit will lieber in der EU bleiben, etwas weniger als die Hälfte aber will raus.

Neben seinen politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen schürt der Brexit auch Emotionen - etwa angesichts der Frage, was für ein Land das Vereinigte Königreich künftig sein soll. "Ich habe mich nie wohl damit gefühlt, dass Großbritannien Regeln einer Instanz vorgeschrieben werden, die es nicht gewählt hat und die niemandem Rechenschaft schuldig zu sein scheint", sagt Andrew Harris, ein Brexit-Befürworter in der walisischen Kleinstadt Brecon. "Ich finde es gut, dass wir eine geografisch kleine Nation sind, die immer unabhängig war. All die Verhandlungen haben doch nur belegt, dass unser Land von der EU gegängelt wird. Die wollen uns doch nur wegen unseres Geldes."

Politisches Chaos schlimmer als der Brexit

Tim Ashton ist Landwirt in Shropshire in den West Midlands. Der Wahlbezirk hat für den Austritt gestimmt. Durch sein Studium in Oxford hat Ashton auch Freunde in London und anderen Großstädten, die mehrheitlich für den Verbleib in der EU stimmten. Er selbst sagt, die Entscheidung damals sei ihm nicht leicht gefallen: "Für mich ist das ein schmerzhafter Spagat: diese kognitive Dissonanz, wenn du zwei Ideen in deinem Kopf hast, und du genau weisst, dass sie unvereinbar sind. Das war wirklich nicht angenehm."

England, London: Gelbwestenproteste
Gelbwesten-Proteste in London: Viele Briten haben genug von ihrer Regierung. Diese Demonstranten fordern NeuwahlenBild: Reuters/H. Nicholls

Letztlich stimmte Ashton für den Verbleib in der EU. "Ich bin überhaupt kein überzeugter EU-Anhänger. Ich kann mir durchaus eine Welt ohne Großbritannien in der EU vorstellen", sagt er, aber auf dem Weg dürfe die britische Verfassung nicht unter die Räder geraten. "Ich will, dass die Politiker ehrlich bleiben. Was auch immer nun geschieht - niemand wird behaupten können, dass es dafür ein demokratisch legitimiertes Mandat gegeben hätte."

Fortschritt Fehlanzeige

Unabhängig davon, auf welcher Seite sie stehen, sind sich viele Wähler einig, dass sich die Regierung schwere Fehltritte im Umgang mit den Verhandlungen geleistet habe. In einem offensichtlichen Versuch, Brexit-Hardliner in der eigenen Partei zu beruhigen, löste Premierministerin May den Austritts-Artikel 50 der EU-Verträge aus, bevor ihre Regierung eine klare Verhandlungsposition hatte. Dadurch stand der Stichtag für den Austritt fest, und viele werfen ihr vor, der EU damit einen Verhandlungsvorteil beschert zu haben. Auch die vorgezogene Unterhauswahl, die sie 2017 anberaumte, endete für May desaströs: Die Abstimmung kostete sie ihre Mehrheit und ebnete letztlich wohl den Weg zum derzeitigen Patt im Parlament.

"Es war das reinste Durcheinander", sagt der Waliser Brexit-Befürworter Harris. "Alle großen politischen Parteien haben den Brexit als Spielball benutzt. Niemand arbeitet mit anderen zusammen, um das Beste für alle herauszuholen, und im Ergebnis steht uns nun ein No-Deal bevor, von dem niemand etwas hat. Alle politischen Parteien haben sich gegenseitig komplett im Stich gelassen."

Der pensionierte Dozent John Bird lebt in London und hat gegen den Brexit gestimmt. Aber er sieht es ähnlich wie Harris: "Die Fortschritte waren unfassbar gering. Wenn ich Brexit-Befürworter wäre, hätte ich nicht gewollt, dass May vorab erklärt, wann sie austreten will. Das ist, als würde man sagen, wann ein Gebäude fertig ist, bevor man weiß, wie viel Material man braucht. Das ist kompletter Leichtsinn."

Großbritannien London - John Bird
Sorgt sich um die aggressive Stimmung, die das Brexit-Chaos unter den Briten auslöst: der pensionierte Dozent John Bird Bild: Anne Bird

Enthüllungen über bedeutende Budgetüberschreitungen und Datenpannen bei der Pro-Brexit-Kampagne sorgen ebenfalls für Ärger: "Wir wissen, dass gegen die Verfassung verstoßen wurde und dass beim Referendum getrickst wurde", sagt Landwirt Ashton. "Wenn man zulässt, dass Leute gegen die Verfassung verstoßen und in Wahlen betrügen, dann befördert man das und wir kriegen noch mehr davon."

Die Debatte wird aggressiver

Die Stimmung im Vereinigten Königreich ist angespannt, so viel ist klar. Und die Sorge über einen zunehmend aggressiven Ton in der öffentlichen Debatte wächst. Im Oktober sagte ein Abgeordneter der "Sunday Times", Theresa May solle zu einem wichtigen Treffen mit Abgeordneten "ihre eigene Schlinge mitbringen". Anfang Januar dann haben rechtsextreme Demonstranten vor dem Parlament die konservative Abgeordnete Anna Soubry, die für die EU-Mitgliedschaft ist, als "Nazi" und "Lügnerin" beschimpft.

"Der Mord an Jo Cox (die Unterhausabgeordnete wurde eine Woche vor dem Brexit-Votum 2016 von einem rechtsextremen Fanatiker ermordet. Anm. d. Red.), der Vorfall mit Anna Soubry - all diese Gewalt wird als eine Art von Patriotismus legitimiert", sagt Rentner Bird. "Ich schwanke zwischen vorsichtigem Optimismus und großer Angst davor, dass die Dinge in diesem Land für eine Weile richtig übel werden können. Und dann wird man die Ausländer beschuldigen und alle, die keine 'Patrioten' sind. Und die, die das Ganze angestoßen haben, werden sich zweifellos aus der Verantwortung winden."