Vor dem Berg in die Schule
8. Oktober 2012"Schön, dass ihr alle da seid", begrüßt Markus Hartmann die Teilnehmer der Bergwanderschule in breitestem bayerischem Dialekt. Die haben sich nicht etwa zu einem Sprachkurs angemeldet, sondern wollen lernen, wie sie sich im Hochgebirge verhalten sollen. Während die Berg-Novizen wie in einer Schulklasse an Tischen hintereinander sitzen und Hartmanns Worten lauschen, gesteht der, dass die bayerischen Bewohner gar nicht auf die Idee mit dem Seminar gekommen seien, sondern ein Flachländer. Der hatte sich in den Bergen verlaufen, weil er die Strecke unterschätzt hatte.
Der Tourist aus dem Rheinland regte an, die "Zugereisten" zu schulen, bevor sie sich auf den Weg zum Gipfel begeben. So entstand Deutschlands erste Bergwanderschule in Oberaudorf, erzählt der 60-Jährige mit dem braun gebrannten Teint, während er den gesamten Inhalt seines Rucksacks auf dem Tisch vor sich ausbreitet.
Wer hat's erfunden? - Die Österreicher
Da es in Deutschland noch keine geprüften Wanderführer gibt, hat Martin Hartmann sich im Nachbarland Österreich ausbilden lassen. Kartenlesen gehörte zum Lehrstoff, Erste Hilfe, Meteorologie, Geologie, Biologie und Lawinenkunde. "Gehen kann zwar jeder, aber wenn ich richtig vorbereitet bin, bin ich auf alles gewappnet", sagt der Bergführer.
In der Unfallstatistik des Deutschen Alpenvereins (DAV) liegen Bergwanderer mit den Skifahrern gleichauf, obwohl Letztere viel rasanter und auf rutschigem Terrain unterwegs sind. Ein Erste-Hilfe-Set gehört zur Ausrüstung und ein Mobiltelefon. Eine Trillerpfeife oder eine Taschenlampe bei Nacht könne helfen, Notsignale zu senden.
Ohne Kondition, richtige Kleidung und Kartenlesen geht gar nichts
"Ihr solltet schon gut ausgerüstet sein", mahnt Markus Hartmann, schaut auf seine persönliche Ausrüstungsliste und danach auf das Schuhwerk seiner "Schüler". "Feste knöchelhohe Schuhe schützen vor Umknicken", rät der Wanderführer. Und dann greift er das erste der Utensilien, die er auf dem Tisch verteilt hatte. "Ein Anorak mit Kapuze gehört in jeden Rucksack für die Tour in die Berge", sagt Hartmann mit Nachdruck, "weil die Temperatur pro 100 Höhenmeter zwischen 0,5 und einem Grad abnimmt – je nach Luftfeuchtigkeit."
Noch immer blicken die Bergtouren-Anfänger aufmerksam auf Hartmann, der sich durch die Reihen bewegt und die einzelnen Rucksäcke begutachtet. Als Nächstes verstaut er eine Thermoskanne. "Trinken ist enorm wichtig. Wer zu Krämpfen neigt, sollte etwas Magnesium zugeben."
Jetzt kommt die Feinjustierung
Hartmann rät, den geplanten Routenverlauf auf einem Spickzettel zu notieren, um nicht immer die große Karte auseinanderzufalten. "Wir gehen von der Rosengasse über den Weg 651 und folgen dem 658 Richtung Süden bis zur Seeon-Alm", eröffnet Markus Hartmann den Wanderern das Ziel nach der Theorie-Einweisung, "die liegt auf 1384 Metern". Auf 1060 Metern wird der Start erfolgen. Da der Weg nicht geradewegs nach oben führt, sind etwa 550 Höhenmeter zu bewältigen, hat Hartmann ausgerechnet.
Auf die Theorie folgt die Praxis
Bergwandern sei ein gutes Training für das Gleichgewichtsgefühl, erklärt der Berglehrer zwischendurch, er allerdings bevorzuge wegen seiner Knieprobleme das Wandern mit Stöcken. Und greift zu seinen höhenverstellbaren Teleskopstöcken. Beim Bergabgehen sollte die Länge so eingestellt sein, dass die Ellenbogen einen rechten Winkel einnehmen, hinauf können die Stöcke etwas kürzer gehalten werden. "Mit aktivem Einsatz der Arme laufen, damit auch die Oberkörpermuskulatur beansprucht wird", ruft Hartmann, ehe sich alle in Bewegung setzen.Bald führt der Weg über eine Felspassage. Der Bergführer weist seine Mitwanderer an, die Stöcke im Rucksack zu verstauen. Fester Tritt und fester Griff zum Einhalten im Gestein sind die Voraussetzungen, die Passage zu meistern. Langsam und auf allen Vieren bewegen sich die Einzelnen nach oben, während Hartmann von unten sichert. "Darf ich Dich anfassen?", holt der Experte die Erlaubnis ein, um dann eine Berg-Debütantantin beim Erklimmen zu unterstützen.
Hinter der nächsten Biegung zeigt sich, dass sich die Mühen gelohnt haben. Wie Zipfelmützen ragen einzelne Gipfel in unterschiedlichen Höhen in den Himmel und zeigen die geschwungene Höhenvielfalt in den Chiemgauer Alpen zwischen Bayrischzell und Oberaudorf. Martin Hartmann ist noch nicht in Genießerstimmung. "Schaut's auf den Wegweiser." Hartmann zeigt auf das Schild an der Wegkreuzung, das auch die aktuelle Höhe von 1500 Metern über dem Meeresspiegel angibt. Hartmann zückt einen Höhenmesser, um zu veranschaulichen, dass der Luftdruck steigt, ein Indiz dafür, dass das Wetter noch schöner wird.
Die Wandergruppe geht ein Stück bergab, der Wanderführer vorweg. Schon bald ist ein Konzert von Kuhglocken zu hören und die Seeon-Alm auf 1386 Meter erreicht. Unter dem See vor der Hütte gibt es ein Höhlensystem, typisch für die zerklüfteten Kalkalpen erwähnt Hartmann. Jetzt eine erfrischende Holunderschorle, und die reichhaltige Brotzeitplatte wird gemeinschaftlich geteilt. Als dann noch Almwirt Stefan zur Ziehharmonika greift und das Jodeln beginnt, mag keiner diesen Platz verlassen.