Vor 20 Jahren: "Schwulen-Paragraf" wird gestrichen
10. März 2014"Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen." So stand es in Paragraf §175 des deutschen Strafgesetzbuches. Das Gesetz aus dem Jahr 1871 drohte homosexuellen Männern nicht nur mit Freiheitsentzug, sondern auch mit der Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte. Zu lesbischen Frauen sagte der Gesetzestext nichts aus.
"Jeder homosexuelle Mann, der seine Sexualität ausgelebt hat, stand mit einem Fuß im Gefängnis. Allein während der Zeit unter Kanzler Adenauer wurden 50.000 Verfahren gegen homosexuelle Männer durchgeführt. Und die strafrechtlichen Sanktionen gingen mit der sozialen Vernichtung der Personen einher", sagt Volker Beck, Bundestagsabgeordneter der Grünen und ehemaliger Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD) im Interview mit der DW.
1969: die eigentliche Kehrtwende
Erst 1969 änderte sich das politische Klima für homosexuelle Männer durch eine Liberalisierung des §175: Von nun an war Homosexualität in der Bundesrepublik zumindest unter erwachsenen Männern straffrei. Allerdings lag das sogenannte Schutzalter weiterhin höher als für Heterosexuelle. So durften zunächst nur Homosexuelle über 21 Jahren Sex mit Gleichgeschlechtlichen haben. Vier Jahre später wurde das Alter auf 18 Jahre herabgesetzt. In der DDR war Homosexualität seit 1989 nicht mehr strafbar. Aber erst im Zuge der Rechtsangleichung nach der Vereinigung beider deutscher Staaten wurde 1994 der §175 endgültig aus dem bundesdeutschen Strafrecht gestrichen.
"Der §175 war ein Symbol für die jahrhundertealte Diskriminierung und Psychiatrisierung von Homosexuellen. Insofern war die Abschaffung des §175 - auch, wenn sie völlig verspätet kam - eine große Erleichterung, aber auch ein starkes Zeichen", erklärt die grüne Politikerin und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth. Erst von da an seien Homosexuelle vor dem Gesetz nicht mehr als Problem, sondern als Normalität definiert worden.
Prominente Politiker outen sich
Doch was die gesellschaftliche und zivilrechtliche Anerkennung und Gleichstellung betreffe, "sind wir immer noch nicht am Ziel", meint Volker Beck. Der Umgang mit Homosexuellen in Deutschland habe sich innerhalb der letzten 20 Jahre aber liberalisiert: "Dazu haben nicht zuletzt Gesetzesinitiativen wie die Eingetragene Lebenspartnerschaft oder die Errichtung eines Denkmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen für eine offene gesellschaftliche Debatte gesorgt", sagt Roth im DW-Interview. Seit dem 1. August 2001 ist es für gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland möglich, eine Lebenspartnerschaft einzugehen, die in vielen Rechtsbereichen der Ehe zwischen Frau und Mann gleich gestellt ist.
Doch viel wichtiger als die gesetzlichen Rahmenbedingungen sei die zunehmende Sichtbarkeit homosexueller Menschen in der Gesellschaft gewesen, betont David Berger, homosexueller Theologe und Philosoph. In seiner Jugend sei das Bild Homosexueller vor allem von Krankheiten wie AIDS geprägt gewesen. "Erst durch die Outings prominenter Politiker wie Klaus Wowereit, Berlins regierendem Bürgermeister, und des ehemaligen Außenministers Guido Westerwelle kamen auf einmal Vorbilder in die Öffentlichkeit. Menschen, die ihre Homosexualität ganz normal ausleben und trotzdem mitten im Leben stehen", sagt Berger. Auch Sympathieträger wie der Komiker Hape Kerkeling und der Moderator Alfred Biolek hätten nach ihrem Outing bewirkt, dass andere Homosexuelle auch mehr Mut hatten, sich zu zeigen, so Berger.
Frankreich und Spanien als Vorreiter
In der deutschen Wirtschaft sei diese Offenheit allerdings noch nicht angekommen. "Ich halte immer noch Ausschau nach dem ersten schwulen oder lesbischen DAX-Vorstand", sagt Beck. Auch Claudia Roth sieht dringenden Nachholbedarf: "Dass in Deutschland die Ehe immer noch nicht für homosexuelle Paare geöffnet ist, ist international eine Peinlichkeit." Weltweit könnten bereits in 15 Ländern gleichgeschlechtliche Paare eine Ehe eingehen. "Aber deutsche Homosexuelle leben in einem Schlaraffenland im Vergleich zu Ländern wie Uganda oder Russland", so Berger. Der ugandische Präsident hatte Ende Februar ein Gesetz unterzeichnet, nach dem Schwule und Lesben zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt werden können.
Doch auch Deutschland sei nicht frei von homophober Gewalt und Diskriminierung. Berger weiß, wovon er spricht. Nach seinem Outing vor vier Jahren wurde dem Theologen die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen, er verlor seine Arbeit als Religionslehrer. Es folgten Anfeindungen von extremen Katholiken und Morddrohungen. Seine Veranstaltungen konnten nur unter Polizeischutz stattfinden - 16 Jahre nach Abschaffung des Paragrafen. "Der Paragraf 175 lebt in den Köpfen teilweise immer noch weiter", sagt Berger. Zum Glück seien aber die positiven Äußerungen über sein Outing deutlich in der Überzahl gewesen.