Deutsche Literatur
Deutsche Schriftsteller erzählen gern in epischer Breite und filmgenau von ihren Figuren, wie sie aussehen, wie sie leben und denken und was ihnen widerfährt. Allen voran Thomas Mann (1875-1955) in seinem großartigen Roman "Die Buddenbrooks" über den Zerfall einer Lübecker Kaufmannsfamilie. Nach seinen präzisen Schilderungen konnte in der Heinrich- und Thomas-Mann-Gedenkstätte in Lübeck ein Zimmer eingerichtet werden. Während Thomas Manns Romane, zum Beispiel auch "Der Zauberberg" und "Der Tod in Venedig", vom Niedergang des Großbürgertums und dem Ende seiner Epoche handeln, dreht sich bei Hermann Hesse (1877-1962) alles um das Leiden des bürgerlichen Individuums.
Selbstfindung ist das große Thema in seinem Roman "Der Steppenwolf" über einen Einzelgänger, der an seiner inneren Zerrissenheit zu zerbrechen droht. Ebenso wie "Siddhartha", die märchenhafte Geschichte einer religiösen Selbstfindung, kommt der "Steppenwolf" bis heute besonders bei Jugendlichen gut an. Für die Hippies war es ein Kultbuch, nicht zuletzt, weil der Held auch Drogen konsumiert.
Das Leben in vielen Kulturen und Sprachen
Auf andere Weise antibürgerlich schrieb Elias Canetti (1905-1994). In Bulgarien geboren, in England, der Schweiz, Österreich und Deutschland aufgewachsen, lebte er nach der Emigration 1938 in London. Canetti war Jude. Über sein Leben in verschiedenen Kulturen und Sprachen erzählt er in seiner mehrbändigen Autobiografie.
Um Selbstfindung geht es auch Peter Handke (1942). Mit seinem politischen Theaterstück "Publikumsbeschimpfung" 1966 und der Erzählung "Der kurze Brief zum langen Abschied" 1972, einem subtilen Beziehungsdrama, erreichte er ein großes Publikum. Handkes Beteiligung als Redner auf der Beerdigung des Serbenführers Slobodan Milošević kostete ihn als Schriftsteller in Deutschland jedoch viele Sympathien.
Spuren des Nationalsozialismus und der Weltkriege
Nationalsozialismus und Krieg ziehen sich wie ein roter Faden als Thema durch die neuere deutsche Literatur von Günter Grass (1927) über Martin Walser (1927), Bernhard Schlink (1944) bis hin zu Julia Frank (1970). Dabei geht es den Autoren vor allem um die innere Welt ihrer Figuren, Sie fragen, wie die Zeitläufte den Charakter und das Handeln prägen, wie sich Menschen durchlavieren und schuldig werden.
Zu den ersten dieser Riege gehörte 1959 Günter Grass mit seinem, von surrealen Bildern durchsetzten Roman "Die Blechtrommel" über den kleinwüchsigen Oskar Matzerath, der aus Kinderperspektive die Erwachsenenwelt beobachtet. Grass wurde darüber zur moralischen Instanz in Deutschland. Dass er selbst als Jugendlicher Mitglied der Waffen-SS war, kam erst durch sein Buch "Beim Häuten der Zwiebel" heraus.
Während die älteren Autoren persönlich noch in die NS-Zeit verstrickt sind, bringen die jüngeren Autoren einen neuen Ton in die Literatur: Bernhard Schlink mit seinem Roman "Der Vorleser" über eine Analphabetin und KZ-Aufseherin, und Julia Francks Werk "Die Mittagsfrau" über eine Mutter, die ihr Kind auf der Flucht aussetzt. Beide erzählen ungewöhnliche, aufwühlende Geschichten.
Vom perfekten Duft und totaler Perfektion
Für einen spielerischen Umgang mit Geschichte steht Patrick Süskind (1949), der mit seinem historischen Roman "Das Parfüm" einen Welterfolg landete. Über einen Mann, der auf der Suche nach dem perfekten Duft zum Mörder wird.
Von großer Souveränität und Perfektion zeugen die Romane Daniel Kehlmanns (1975). Er ist ein Hochbegabter unter den jungen Autoren, der sicher einmal zu den ganz Großen gehören wird. Ein gebildeter, handwerklich versierter und ideenreicher Schriftsteller. Sein Roman "Die Vermessung der Welt" über zwei Figuren der deutschen Geschichte, den Mathematiker Carl Friedrich Gauß und den Naturforscher Alexander von Humboldt, ist ein Überraschungserfolg. Er zeigt, dass auch ein kluges Buch zum Besteller werden kann. Ein Roman voller Anspielungen und feiner Ironie.