Das Schweigen der Väter und Großväter
11. April 2020Über Jahrzehnte war ich der festen Überzeugung, mein Großvater habe einfach nur riesengroßes Glück gehabt, weitgehend unbeschadet aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause gekommen zu sein. Er war im Sommer 1941 eingezogen worden, musste jedoch nicht an die mörderische Ostfront, sondern wurde zu den Besatzungstruppen nach Griechenland abkommandiert. Im Herbst 1944 dann der kampflose Rückzug von dort. Wenige Tage vor der völligen Zerstörung der Stadt war sein Verband noch in Dresden gewesen. Im Frühjahr 1945 geriet er in Thüringen in amerikanische Gefangenschaft.
Diese Gefangennahme erwies sich nur wenige Wochen später als die beste aller Möglichkeiten: Denn kurz vor dem Gebietsaustausch am 1. Juli 1945 (die US-Truppen zogen sich in die künftigen Westzonen zurück und rückten im Gegenzug mit Briten und Franzosen in das ab sofort gemeinschaftlich verwaltete Berlin ein) statteten die Amerikaner ihre deutschen Gefangenen mit Entlassungspapieren aus.
Die US-Soldaten gaben insbesondere den Männern aus dem Süden und Westen Deutschlands den Rat, so schnell wie möglich aus der Sowjetischen Besatzungszone zu verschwinden. Andernfalls drohe eine lange Gefangenschaft in Russland - damals die Horrorvorstellung aller Soldaten der deutschen Wehrmacht. Und so endete der fast vierjährige Kriegsdienst meines Großvaters mit einem dreiwöchigen Fußmarsch von Thüringen in den Schwarzwald. Schon Mitte Juli 1945 war er wieder bei seiner Familie, ohne dass er auch nur ein einziges Mal verwundet worden war.
Ein alter kleiner Lederkoffer
Seit etwas mehr als drei Jahren hat diese Familiengeschichte ein zusätzliches Kapitel bekommen. Nach dem Tod meiner Patentante, der jüngsten Tochter meines Großvaters, gab mir mein Onkel einen kleinen alten Lederkoffer: "Der steht seit bald 30 Jahren hier nur herum - da wollte sie immer mal reinschauen."
Zwischen alten Kreditverträgen, Erbscheinen und Versicherungspolicen lag auch das Soldbuch meines Großvaters aus dem Zweiten Weltkrieg. Und sein Entlassungsschein vom 21. Juni 1945: "This pass authorizes Willi Merkel to travel by any means available from Nordhausen to Rastatt for the purpose of returning home."
Nordhausen am Südrand des Harzes also war der letzte Einsatzort der Heeres-Pionierbrigade 688 gewesen, der mein Großvater damals angehörte. Eine Stadt, die zwar kampflos von den US-Truppen eingenommen wurde, aber dennoch völlig zerstört war. Genau eine Woche zuvor waren mindestens 8000 Menschen bei zwei aufeinanderfolgenden britischen Bombenangriffen umgekommen. Verwesungsgeruch soll über den rauchenden Trümmern der Stadt gelegen haben, als die Amerikaner am 11. April kamen.
Doch die stießen an diesem Tag noch auf einen weiteren Ort des Grauens: das KZ Mittelbau-Dora, wenige Kilometer nördlich der Stadt Nordhausen. Mittelbau-Dora war - nicht einmal zwei Jahre zuvor - als letztes Konzentrationslager auf deutschen Boden eingerichtet worden und bestand aus einer riesigen Stollenanlage, in der die sogenannten "Vergeltungswaffen" montiert wurden: die Flugbombe V1 und die Rakete V2. Schon beim Bau der Fabrikstollen 1943 waren Tausende KZ-Häftlinge im wahrsten Sinne des Wortes krepiert. Aber auch im Frühjahr 1945 herrschten himmelschreiende Zustände an dem Ort, der damals "Lager Dora" genannt wurde.
Der schlimmste Ort Deutschlands
Amerikanische Veteranen beschrieben Mittelbau-Dora als den schlimmsten Ort, den sie in Deutschland zu Gesicht bekommen hätten - furchtbarer noch als das 70 Kilometer entfernte KZ Buchenwald, das am selben Tag befreit wurde. Neben rund 2000 verwesenden Leichen fanden die GIs etwa 1200 Überlebende vor, die zumeist mehr tot als lebendig waren. Denn die Häftlinge in besserer Verfassung hatte Hitlers SS schon im März auf sogenannte Todesmärsche in Richtung Bergen-Belsen, Sachsenhausen und Lübecker Bucht geschickt.
Die Amerikaner reagierten mit scharfen Maßnahmen: Die Bürger Nordhausens wurden zwangsweise durch das Lager vor ihrer Haustür geführt - was Vorbild wurde für entsprechende Aktionen an allen Standorten von Konzentrationslagern in den Wochen darauf. Die Toten mussten feierlich bestattet werden. Vor allem aber zog man das gesamte Sanitätspersonal der gefangen genommenen deutschen Truppen im Lager Dora zusammen. Mein Großvater, der im Februar 1944 einen Lehrgang als "Hilfskrankenträger" gemacht hatte, gehörte zu diesen Soldaten, wie ein in Deutsch und Englisch abgefasstes Schreiben aus dem Koffer belegt:
"Die Männer des Feldlazaretts 2/562 und anderer Einheiten waren vom 15. April bis zum heutigen Tage […] unter meiner Leitung im Hospital des Lagers Dora eingesetzt. Sie haben die ihnen gestellten Aufgaben bei der Betreuung von etwa 1300 ehemaligen Häftlingen und Fremdarbeitern aller Nationen zu meiner vollsten Zufriedenheit gelöst. Durch ihre ärztliche und pflegerische Tätigkeit sowie die Art ihres Auftretens ist es ihnen gelungen, wesentlich dazu beizutragen, die körperlichen und seelischen Wunden der im Lager Zurückgelassenen zu heilen oder zu lindern", bescheinigte Dr. W.A. Oudshoorn, "ehemaliger politischer Gefangener des Konzentrationslagers Dora, Chefarzt des Lagerhospitals" am 12. Juni 1945.
Und auf der Rückseite bestätigte der deutsche Oberfeldarzt Prof. Dr. von Hasselbach: "Der Obergefreite Willi Merkel gehört seit dem 15.4.45 zu dem im Hospital des Lagers Dora eingesetzten Sanitätspersonal."
Verschweigen. Verdrängung? Scham?
Dieses Papier hat mich in den vergangenen drei Jahren schon oft beschäftigt. Es war wohl nicht Glück allein, das mein Großvater im Krieg hatte. Denn Nordhausen und das Lager Dora hat er, der ansonsten immer wieder mal vom Krieg erzählte, nie erwähnt. Seine Töchter und Enkel wussten jedenfalls nichts davon. Warum? Hat er diese furchtbaren Tage des Kriegsendes einfach verdrängt?
Oder hat er sich ganz schlicht geschämt für das, was damals in deutschem Namen angerichtet wurde und dessen Zeuge er geworden war? Weil er, der infolge der Weltwirtschaftskrise die Laufbahn nicht einschlagen konnte, die er sich erträumt hatte, vielleicht selbst die Nazis gewählt hatte? Ich weiß all das nicht.
Ich bin mir aber sicher, dass mein Großvater kein Einzelfall war. Dass viele seiner Generation über das, was sie gesehen, erlebt und vor allem auch getan haben, nie mehr sprachen. Nicht sprechen wollten, nicht sprechen konnten. Und deswegen vieles von dem, was wir Nachgeborenen nur aus Geschichtsbüchern kennen, unsere Familien viel näher berührt hat, als wir heute oft ahnen und wissen.