Vom Hometrainer zum Profivertrag
29. März 2017Es ist so einiges ungewöhnlich an der Geschichte der Leah Thorvilson. Zum Beispiel, dass sie im fortgeschrittenen Alter von 38 Jahren ihren ersten Profivertrag unterschreibt und damit die älteste Newcomerin im Radsport ist. Ungewöhnlich ist auch, dass die US-Amerikanerin bereits ein Sportlerleben hinter sich hat - im Laufen. Dort gewann sie 16 Marathons. Das erstaunlichste an ihrem Werdegang ist aber etwas ganz anderes: Als erste Sportlerin weltweit wird sie Profi, weil sie einen virtuellen Wettkampf im Internet gewann.
Das Ende als Anfang
Doch der Reihe nach. Bevor Leah Thorvilson überraschend Radprofi auf der UCI Women's Tour wird, erlebt sie ihr persönliches Waterloo. Jahrelang ist sie eine erfolgreiche Langstreckenläuferin, neben ihrem Beruf an der Universität von Arkansas. Sie siegt am laufenden Band, absolviert ein immenses Pensum. Profi-Marathonläufer laufen meist zwei bis drei große Wettkämpfe pro Jahr, denn die körperliche Belastung zusätzlich zum Training ist zu groß. Thorvilson läuft innerhalb von sechs Monaten acht Marathons und einen "50 miler" (80,4672 km). Sie ist besessen von ihrem Sport.
Aber ihr Körper macht irgendwann nicht mehr mit. Eine Serie von Verletzungen ist die Folge. Vier Knieoperationen und eine Knochentransplantation später ist ihre Laufkarriere vorbei. Die Ärzte teilen ihr mit, dass sie nicht weiter laufen kann. "Die Diagnose hat mich komplett erschüttert. Laufen ist quasi zu meiner Identität geworden", sagt Thorvilson rückblickend. Ein harter Schnitt für sie, doch vom Leistungssport kann sie sich immer noch nicht lösen - trotz eines zeitaufwändigen Jobs als Entwicklungs-Direktorin am College für Erziehung und Gesundheit der Uni Arkansas. "Der einzige Plan, den ich hatte war, dass ich vielleicht mit Radfahren anfange." Widerwillig tauscht sie die Laufschuhe gegen ein Rennrad und sattelt sprichwörtlich um.
Das Wohnzimmer wird zur Rennstrecke
Innerhalb eines Jahres fährt Thorvilson 12.000 Kilometer. Wieder ist sie besessen. Um neben ihrer Arbeit trainieren zu können, steht sie morgens um vier Uhr auf. Sie trainiert zu Hause, auf einer Trainingsrolle, denn das spart Zeit. Das Hinterrad ihres Bikes wird dabei in den Rollentrainer eingespannt, mittels einer Magnetstrombremse wird der Widerstand reguliert, sodass sich Bergauf- oder Bergabfahrten problemlos simulieren lassen. Doch das Fahren auf der Stelle, im heimischen Wohnzimmer, wird schnell monoton. Über eine Freundin entdeckt sie die Online-Trainingsplattform Zwift. Hier treffen sich virtuell Athleten, die zu Hause im Wohnzimmer trainieren. Dabei wird die Trainingsrolle mit dem Internet verbunden, die von ihr erfahrenen Watt-Werte werden übertragen auf eine virtuelle Radfahrerin, die wie in einem Computerspiel gegen andere Avatare antritt. Ein Laptop vor ihrem Rennrad lässt sie eintauchen in den virtuellen Wettkampf, das Wohnzimmer wird zur Rennstrecke.
Wie es der Zufall will, sucht Ronny Lauke, Manager des deutschen Frauen-Profiradsportteams Canyon/SRAM, zu diesem Zeitpunkt noch eine neue Fahrerin für die Saison 2017. Ein herkömmliches Scouting kommt für ihn dabei nicht in Frage: "Ich sehe seit Jahren, welche Fahrerinnen auf der Tour sind, die kenne ich. Es wäre immer wieder der gleiche Ansatz gewesen." Zusammen mit dem Teamsponsor Zwift kommt er auf die Idee, die Zwift-Academy ins Leben zu rufen, ein virtuelles Ausscheidungsfahren. Das Konzept klingt simpel: Wer die Zwift-Academy gewinnt, bekommt einen Profivertrag. 1200 Frauen nehmen an dieser Herausforderung teil und müssen in den kommenden sechs Monaten täglich strampeln und verschiedene fahrerische Herausforderungen meistern. "Zwift bietet den Vorteil, dass man von jedem Winkel dieser Erde seine Leistung zeigen kann. Wir können zum Beispiel sehen, wie viel Watt pro Kilo getreten werden. So können wir identifizieren wer stark genug ist", erklärt Lauke im Gespräch mit der DW.
Neue Formen des Talentscoutings
Talentsichtung via Internet ist längst nichts Neues mehr. Doch Laukes Ansatz geht weit über das Studium von Youtubeclips hinaus. Prof. Dr. Christoph Breuer vom Institut für Sportökonomie und Sportmanagement an der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS) sieht die Herangehensweise von Teammanager Lauke auf dem Vormarsch: "Diese Form des Scoutings wird zunehmen, schon allein aufgrund der sich weiterentwickelnden technischen Möglichkeiten. Es könnten bestimmte Parameter verlangt werden. Diese ermöglichen eine Vorselektion, ehe am Ende die persönliche Auswahl erfolgt."
Plötzlich ist Leah Thorvilson wieder in ihrem Element, dem Wettkampf. Eine dreiköpfige Jury wertet alle Daten aus und im Dezember bleiben drei Fahrerinnen über - die mit den besten Leistungsdaten. Leah Thorvilson ist eine davon. Von nun an sind die Leistungsdaten nebensächlich und die persönlichen Fähigkeiten stehen im Vordergrund, beispielsweise Teamtauglichkeit und der Umgang mit den Medien. "Wir haben die drei Frauen eingeladen um uns ein persönliches Bild von ihnen machen zu können, da es immer noch ein Teamsport ist und sie deshalb auch in das Team passen müssen", sagt Lauke. Am Ende lässt Leah Thorvilson die beiden verbliebenen Konkurrentinnen hinter sich - wie schon bei so vielen Marathons. Jetzt gilt es zu beweisen, dass sie sich in einem etablierten Umfeld wie der UCI Women's Tour behaupten kann. Ihre Konkurrenz hat einen entscheidenden Vorteil: jahrelanges fahrerisches und taktisches Verständnis. Das muss Leah Thorvilson erst noch lernen. Doch Lauke ist zuversichtlich: "Ihre Trainingsmoral ist extrem gut und hoch. Sie ist sehr fleißig, wissbegierig und hinterfragt alles." Nach den ersten Rundfahrten der Saison kann der Teammanager bereits ein kleines Resümee ziehen: "Es wird schwer, sie zu einer Liebhaberin der belgischen Frühjahresklassiker zu formen. Dort sind die Bedingungen sehr schwer. Wenn die Straßen jedoch breiter werden, es auf und ab geht, dann denke ich, dass sie uns überraschen wird."
Jobaufgabe für den Traum
Wird sich die digitale Talentsichtung durchsetzen? Lauke sieht dafür erste Anzeichen: "Ich weiß, dass es Überlegungen bei Nationalmannschaften gibt, in dieser Form ihren Kader zu scouten. Vor einem Jahr wurde ich mit der Idee noch belächelt, selbst von meinem eigenen Team. Aber mittlerweile sind die Mädels begeistert und froh, dass Leah da ist und dem Team viel gibt, gerade weil sie nicht aus dem Radsport kommt und deshalb anders auf die Dinge schaut. Dadurch wird das Team positiv beeinflusst." Auch der Sportwissenschaftler Christoph Breuer sieht die Vorteile eines solchen Verfahrens: "Es werden Kosten gespart, indem ich nur die Daten auswerten muss, die mir der Athlet liefert. Ich spare dadurch auch Zeit, da der Scout nicht durch die Welt reisen muss, sondern vor Ort arbeiten kann. Das sind entscheidende Vorteile."
Ihre Tätigkeit an der Universität von Arkansas, als Leiterin einer Entwicklungsgruppe, wird Leah Thorvilson aufgeben müssen - zu zeitintensiv ist das Leben als Radprofi. Aber sie kann sich das Abenteuer leisten: Das Haus sei abbezahlt und sie habe keine Schulden, denn viel wirft der Profivertrag nicht ab. Egal, Thorvilson hat "richtig Lust auf den Profi-Radsport", sagt sie, denn Sport ist ihr Leben.