"Visumspflicht für Kosovaren aufheben"
2. März 2015Deutsche Welle: Rund 50.000 Kosovaren sollen allein im letzten halben Jahr ihr Land verlassen haben, bei einer Einwohnerzahl von insgesamt rund 1,7 Millionen Menschen. Warum kehren so viele Kosovaren ihrer Heimat den Rücken?
Norbert Mappes-Niediek: Ich glaube man muss zwischen Grund und Anlass stark unterscheiden. Es findet eine ständige Ausreise von Kosovo-Albanern und auch von anderen Minderheiten aus dem Kosovo statt. Der Hauptgrund ist die Perspektivlosigkeit. Jährlich werden rund 50.000 junge Leute auf den Arbeitsmarkt entlassen und haben da so gut wie überhaupt keine Chance. Viele haben praktisch keine andere Möglichkeit, als ins Ausland zu gehen.
Die geradezu panikartige Ausreisewelle im Dezember, die mittlerweile aber wieder verebbt ist, hatte seine eigene Dynamik. Der genaue Anlass dafür ist schwer auszumachen. Viele sagen, es sei die Regierungsbildung gewesen Anfang Dezember. Danach war klar, es wird sich im Kosovo nichts ändern. Es hatte ein halbes Jahr gedauert bis es nach der Wahl im Kosovo eine Regierung gab. Zunächst hatte sich eine Koalition für einen Machtwechsel gebildet. Doch unter heftiger Intervention der internationalen Gemeinschaft - auch der Bundesrepublik Deutschland - ist dieser Machtwechsel dann ausgeblieben. Jetzt gibt es eine große Koalition. Dadurch ist bei den Kosovaren der Eindruck entstanden: Man kann ja wählen, wen man will, es bleiben immer die gleichen Leute an der Macht.
Auch die grassierende Organisierte Kriminalität im Kosovo wird oft als ein Grund für die Flucht vieler Menschen aus ihrer Heimat genannt. Würden sie dem zustimmen?
Ich würde sagen, die Menschen fliehen nicht direkt vor der Organisierten Kriminalität, da man davon im Alltagsleben nicht so viel mitbekommt. Aber wovor sie sicher fliehen ist die Korruption. Sie fliehen vor einem Staat, der überhaupt nichts zusammen bringt, und in dem eine kleine Elite sich die Taschen füllt. Diese Elite hat auch ihre Verbindungen zur Organisierten Kriminalität. Aber das spielt im Alltagsleben eigentlich keine Rolle. Sie können sich im Kosovo sicher bewegen. Sie müssen nicht ständig Angst haben, von einer Maschinenpistolensalve niedergemäht zu werden oder dergleichen. Man kann auch Geschäfte aufmachen, ohne dass der Schutzgelderpresser vor der Tür steht. Das geht dort wahrscheinlich besser als in manch einer westeuropäischen Großstadt.
Welche Folgen hat die massive Auswanderung für das Land?
Es hat zunächst einmal die Folge, dass natürlich die Besten gehen. Das mindert die Möglichkeiten, dass im Kosovo selber eine florierende Wirtschaft entsteht, entsprechend. Ansonsten hat die Auswanderung aber auch eine Ventil- und Entlastungsfunktion, weil dadurch der nicht vorhandene Arbeitsmarkt weniger unter Druck gerät, wenn so viele Leute weggehen.
Allerdings gibt es in dieser Situation keine Perspektive, die Leute gehen halt und fallen dem Staat nicht mehr zur Last. Wie sich das Land so jemals ändern sollte, das ist in dieser Situation gar nicht angelegt.
Welche Lösungsansätze sehen sie, um das Kosovo zukünftig voranzubringen?
Ich denke man sollte zuallererst die Visumspflicht für Kosovaren in der EU aufheben. Für alle anderen Nachbarländer ist sie ja bereits aufgehoben: Alle Albaner, Montenegrer, Bosnier, Serben und Mazedonier dürfen frei in die EU einreisen, zumindest für drei Monate als Touristen.
Sollte die Visumspflicht abgeschafft werden, heißt das natürlich nicht unbedingt, dass die Kosovaren sich dann den Eiffelturm angucken. Viele werden in der Zeit arbeiten. Und werden dann Geld nach Hause schicken oder nach einiger Zeit zurück kehren, um dann eine ganze Zeit von dem Geld, das sie im Westen verdient haben, im Kosovo zu leben. Auf jeden Fall entsteht auf diese Weise eine Art Austausch. Und dieser Austausch macht es dann auch wieder leichter möglich, dass im Kosovo etwas entsteht. Außerdem würden es so keine panikartigen Ausreisen mehr geben, wie wir sie in den letzten Wochen erlebt haben.
Was halten sie von dem Vorschlag, mehr in deutsche Schulen im Kosovo zu investieren, um so etwas gegen den in Deutschland oft beschworenen Fachkräftemangel zu tun?
Das ist eine gute Idee. Das ist ein proaktiver Zugang. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir die Bande zu den Kosovaren gar nicht kappen können. Es gibt kaum noch jemanden im Kosovo, der keine Verwandten irgendwo in der Schweiz, in Deutschland oder in Österreich hat. Die familiären Bande sind also sehr eng. Wir nehmen das Kosovo oft als ein weit entferntes exotisches Land wahr. Umgekehrt ist das aber überhaupt nicht so. Die meisten Kosovaren haben irgendeine Beziehung nach Deutschland, in die Schweiz oder nach Österreich. Wenn man diese Beziehungen erquicklich gestalten will, dann sorgt man dafür, dass Leute, die zu uns kommen, gut ausgebildet sind und dass sie vielleicht schon Deutsch können, wenn Sie zu uns kommen.
Deutschland kann von dieser Art Immigration profitieren. Doch solange sie illegal ist, ist sie ein Problem. Dieselbe Auswanderung ist, wenn man sie legalisiert und wenn man sie auf vernünftige Füße stellt, eine gute Sache.
Das Kosovo ist die am dichtesten besiedelte Region auf dem Balkan und es war nie in der Lage, sich selbst zu tragen. Es hat immer zu einem größeren Staatswesen gehört und zu hoffen, dass sich das irgendwann mal ändern würde, ist, glaube ich, eine Illusion. Die Immigration, gerade die der jungen Männer, hat eine lange Tradition. Es war schon immer so, dass sie weggegangen sind und dass die Familien dann von dem gelebt haben, was sie nach Hause geschickt haben. Das ist heute nicht anders als vor 50 oder 100 Jahren.
Norbert Mappes-Niediek ist Südosteuropakorrespondent für verschiedene deutsche Tageszeitungen und Autor mehrerer Bücher über den Balkan. Seit 1992 reist er regelmäßig in das Kosovo.
Das Gespräch führte Greta Hamann