Visegrad und Italien lassen EU-Gipfel floppen
1. Juli 2019Die Augen waren rot, die Tränensäcke groß, die Haut ergraut. Nach 16 Stunden Verhandlungen durch die Nacht wirkten die meisten der 28 Staats- und Regierungschef der Europäischen Union in Brüssel nicht mehr ganz so frisch. Einer Lösung der Personalfragen sind sie nicht näher gekommen. Der Ratsvorsitzende, Donald Tusk, der auch in Einzelgesprächen mit widerspenstigen Regierungschefs nicht weiter kam, vertagte den Gipfel auf Dienstag 11 Uhr MESZ.
Entnervt von der Kompromisslosigkeit der beiden großen Lager, die sich gebildet hatten, sagte Tusk seine Pressekonferenz ab und ließ im Dunkeln, wie genau der Verhandlungsstand ist. Einige Journalisten hatten im Pressesaal übernachtet. Vergeblich.
Nach Einschätzung von Bundeskanzlerin Angela Merkel gibt es auf der einen Seite die Visegrad-Staaten, Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien, sowie Italien, die Frans Timmermans als neuen EU-Kommissionspräsidenten offen ablehnen. Ihnen ist der niederländische Sozialdemokrat zu links eingestellt und zu sehr auf Kritik an den rechtsstaatlichen Mängeln in Ungarn oder Polen fixiert.
Ausgerechnet der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, der wegen seiner EU-kritischen Einstellungen von der christdemokratischen Volkspartei suspendiert wurde, schwang sich zum Retter der Christdemokraten auf. Er bestand darauf, dass der Spitzenposten auch an den Kandidaten der größten Fraktion im Parlament, nämlich die Christdemokraten, gehen müsse.
Dabei unterstützt Viktor Orban den eigenen Spitzenkandidaten der christdemokratischen EVP, Manfred Weber (CSU), eigentlich gar nicht. Das hatte er vor der Europawahl Ende Mai mehr als deutlich gemacht. Auch Manfred Weber wollte nicht auf die Unterstützung der Ungarn angewiesen sein.
Der Riss geht durch Staatengruppen und Parteien
Auf der anderen Seite stehen Staaten, die mit Franz Timmermans als EU-Kommissionspräsident leben könnten. Er gilt als hochqualifiziert, auch wenn er nur das zweitbeste Ergebnis bei der Europawahl erzielt hatte. Angela Merkel, die deutsche Bundeskanzlerin, könnte Timmermans unterstützen. In ihrer eigenen Parteienfamilie, der christdemokratischen EVP, gibt es aber trotz intensiver Beratungen Widerstand dagegen, das Feld den Sozialdemokraten zu überlassen.
Merkel sagte nach der überlangen Sitzungsnacht, sie "habe das immer schon vorausgeahnt", dass es nach der Europawahl eine "spannungsgeladene Aufgabe" für den Europäischen Rat, also den Gipfel, und das Europäische Parlament geben würde. Beide Institutionen müssen dem Personalpaket mehrheitlich zustimmen. Da man jetzt aber drei oder vier Parteien und nicht wie früher nur zwei Parteien für eine Mehrheit braucht, ist die Kompromisssuche schwieriger. "Das ist so nicht definiert" in den Europäischen Verträgen, meinte Merkel.
Der französische Präsident Emmanuel Macron bemängelte, dass die EU international ein ganz schlechtes Bild abgebe, weil sie nicht in der Lage sei, die fünf frei werdenden Spitzenjobs zu besetzen: EU-Kommissionspräsident, Präsident des Rates, Außenbeauftragter, Parlamentspräsident und Präsident der Europäischen Zentralbank. Mindestens zwei der Posten sollen an Frauen gehen.
"Wir können nicht länger Geisel einer Partei sein. Wir müssen die Regeln ändern. Wir brauchen eine wahre Reform", sagte der französische Präsident, der zur liberalen Parteienfamilie gehört und gerne die liberale Dänin Margrethe Vestager als EU-Kommissionspräsidentin installiert hätte.
"Nichts übers Knie brechen"
Angela Merkel gestand zu, dass die Menschen in Europa, den Hickhack in Brüssel schlecht finden könnten. "Wenn wir jetzt hier etwas übers Knie brechen, dann müssen wir vielleicht fünf Jahre mit dieser möglicherweise schlechten Entscheidung leben", sagte die Bundeskanzlerin. "Wenn das heute nicht geht, dann wird das vor der Geschichte egal sein, ob es noch einen Tag länger dauert." Theoretisch könnte der Europäische Rat auch abstimmen und die vier Visegrad-Staaten und Italien mit einer doppelten Mehrheit aus Mitgliedstaaten (21) und Bevölkerung (65 Prozent) überstimmen. Das solle aber vermieden werden, sagte Angela Merkel, um "100 Millionen Europäer nicht außer Acht zu lassen."
Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte gab an, das Konzept der "Spitzenkandidaten", welches das Parlament verficht, sei vom Tisch. Bis Dienstag müssten alternative Vorschläge her. Andere Regierungschefs, wie der kroatische Premier Andrej Plenkovic, orakelten, noch sei alles offen und niemand habe den rechten Überblick über die vielen möglichen Kombinationen der Posten.
Plenkovic wird selbst als Kandidat für einen Posten genannt. Die frühere bulgarische EU-Kommissarin Kristalina Georgieva soll nach Angaben des bulgarischen Ministerpräsident Boris Borissov nicht mehr Präsidentin des Europäischen Rates, sondern nur noch Außenbeauftragte werden. Die beiden osteuropäischen Politiker könnten als Teil des Pakets die osteuropäischen EU-Staaten milde stimmen.
Oder vielleicht nicht? Denn die österreichische Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein nannte das ganze Paket noch nicht stimmig. Es gebe keine Gleichgewichte bei den Regionen, Geschlechtern oder politischen Parteien.
Zeit drängt
Am Montagnachmittag ist für Staats- und Regierungschefs erst einmal Zeit für ein Nickerchen. Am Abend sollen die Konsultationen in verschiedenen Zirkeln und Gruppen wieder aufgenommen werden. Während der Nacht oder am Morgen will Ratspräsident Tusk dann zu einem Abschluss kommen, da das Europäische Parlament am Mittwoch in der ersten Sitzung nach der Europawahl seinen Präsidenten wählen will. Und der ist ja Teil des Fünfer-Pakets.
"Wir freuen uns alle auf ein Wiedersehen", sagte die deutsche Kanzlerin müde lächelnd bevor Merkel das Gipfelgebäude verließ. "Also, ich freue mich zumindest."