Vietnams Kriegserklärung an Corona
23. April 2020Im reichen und mehr als 10.000 Kilometer vom Ausgangsland China entfernten Europa wütet das Coronavirus. Allein in Deutschland haben sich laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mehr als 150.648 Menschen infiziert, 5.315 sind gestorben. In Vietnam, das eine mehr als 1100 Kilometer lange Grenze mit China teilt, gibt es bis heute gerade einmal 268 Infizierte und keinen Toten, zumindest nach offiziellen Angaben (Stand 23.04.2020). Am Donnerstag meldete Vietnam erstmalig keine Neuinfektionen. Seit Mittwoch wird der strenge Lockdown gelockert.
Auch wenn die Zahlen in dem Land mit Vorsicht zu genießen sind, ist klar, dass Vietnam im Kampf gegen Corona einen guten Job macht. Es ist gelungen, das Land in Phase I der Virusbekämpfung also der Eindämmung ("containment") zu halten, was beispielsweise in Europa und den USA nicht erfolgreich war. Hier überstiegen die Fallzahlen bald die Möglichkeiten der Gesundheitsbehörden das Virus einzudämmen und alle Infektionsketten nachzuvollziehen.
Möglich wurde das durch ein entschiedenes Vorgehen der vietnamesischen Regierung. Während des vietnamesischen Neujahrsfestes Tet Ende Januar beschränkte sich der Ausbruch noch weitgehend auf China. Doch schon zu diesem frühen Zeitpunkt erklärte der vietnamesische Premierminister Nguyen Xuan Phuc auf einem Regierungstreffen dem Coronavirus den Krieg. Er warnte, dass es nicht mehr lange dauere, bis das Virus Vietnam erreiche. Er sagte: "Die Epidemie zu bekämpfen, bedeutet den Feind zu bekämpfen."
Mobilisierung an allen Fronten
Doch wie kämpfen, wenn es an Kapital und einem soliden Gesundheitssystem fehlt? Ein Vorgehen wie in Korea, wo Hunderttausende Tests durchgeführt wurden, ist aus Kapazitätsgründen in Vietnam ausgeschlossen. Auch die medizinische Versorgung ist begrenzt. Nguyen Thanh Phong, der Bürgermeister der Acht-Millionen-Einwohner-Metropole Ho Chi Minh-Stadt erklärte, es gebe in seiner Stadt nur 900 Betten zur intensivmedizinischen Betreuung – unmöglich, damit einer großen Epidemie Herr zu werden.
Deswegen setzte Vietnam auf rigorose Quarantäne und die lückenlose Ermittlung von Kontaktpersonen, und zwar viel früher als China, wo Ausgangssperren als letztes Mittel unausweichlich geworden waren.
So wurde in Vietnam bereits am 13. Februar eine ganze Kommune mit mehr als 10.000 Einwohnern in der Nähe von Hanoi unter eine dreiwöchige Quarantäne gestellt. Zu diesem Zeitpunkt gab es gerade einmal zehn bestätigte Fälle im Land.
Darüber hinaus wurden und werden mögliche Kontaktpersonen in einem weiten Umfeld dokumentiert. Statt wie etwa in Deutschland üblich werden nicht nur Erkrankte und direkte Kontaktpersonen erfasst, sondern auch Zweit-, Dritt- und Viertkontakte. All diesen Personen werden in absteigender Härte Bewegungs- und Kontakteinschränkungen auferlegt. Schon sehr früh mussten Personen aus Risikogebieten, die nach Vietnam eingereist sind, unmittelbar nach Einreise eine 14-tägige Quarantäne antreten. Die Universitäten und Schulen sind seit den Tet-Ferien (Anfang Februar) geschlossen.
Überwachungsstaat
Anstatt auf Hightech-Medizin setzte Vietnam auf Prävention und Kontrolle. Dabei kommen die Sicherheitsorgane, das gut ausgestattete und allgemein respektierte Militär und ein weit verzweigter Apparat zur Überwachung der Bevölkerung zum Einsatz. In nahezu jedem Straßenzug, in jedem Viertel, an jeder Kreuzung und in jedem Dorf sind die Sicherheitsorgane oder Spitzel der Kommunistischen Partei vertreten. Das Militär wirft Soldaten zur Kontrolle und Material wie zum Beispiel mobile Krankenhäuser in den Kampf. Die engmaschige Überwachung verhindert weitgehend, dass einzelne Personen durch das Netz schlüpfen oder sich den Maßnahmen der Regierung entziehen.
Mit solchen von den Medien verbreiteten Tweets sucht das Gesundheitsministerium nach möglichen Kontaktpersonen.
Die Kehrseite der Medaille: Einzelne erkrankte Personen werden in ihrer Nachbarschaft und in den sozialen Medien an den Pranger gestellt. So zum Beispiel Frau N., die von einer Europareise unter anderem nach Italien und Großbritannien das Virus zurück in die Hauptstadt Vietnam gebracht hat. Diese Patientin Nr. 17 war auch deswegen ein besonderer Fall, weil die ersten 16 Erkrankten bereits genesen waren, als Frau N. sozusagen als zweiter Patient Null die Infektion aus Europa wieder nach Vietnam brachte. Sie ignorierte die Maßnahmen der Regierung, wie etwa die Meldepflicht und die Quarantäne. Als ihr Fall bekannt wurde, wurde sie den Regeln unterworfen. In den Sozialen Medien musste sie Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Soziale Ächtung von Erkrankten erzeugt einen gewaltigen gesellschaftlichen Druck, sich den Maßgaben der Regierung unterzuordnen.
Kriegsrhetorik
An der Propagandafront setzt die Regierung auf Kriegsrhetorik. Die martialische Ausdrucksweise des Premierministers, der sagte "Jedes Unternehmen, jeder Bürger, jedes Viertel muss eine Festung sein, um die Epidemie aufzuhalten!" trifft in der vietnamesischen Bevölkerung einen Nerv. Die Bevölkerung ist stolz auf ihre Fähigkeit, in Krisen zusammenzustehen und große Entbehrungen auf sich zu nehmen. "Vietnam ist eine Mobilisierungsgesellschaft", wie der Vietnamexperte Carl Thayer, emeritierter Professor der australischen Universität New South Wales, in einem Interview mit der Financial Times sagte.
Die staatlich kontrollierten Medien starteten eine große Informationskampagne. Das Gesundheitsministerium ließ einen Song, der zum Händewaschen aufrief, ins Internet stellen, wo er schnell Verbreitung fand.
Nicht weniger erfolgreich sind Plakat im Stil der Propagandaplakate aus dem Krieg.
Alle Bewohner des Landes erhielten regelmäßig SMS-Nachrichten vom Gesundheitsministerium, die vor der Krankheit warnten und über Verhaltensregeln wie Kontaktvermeidung und regelmäßiges Händewaschen aufklärten.
Breite Akzeptanz
Es gibt zu dem Thema zwar keine empirischen Untersuchungen, aber aus Gesprächen mit Vietnamesen und dem Bild, dass sich in den sozialen Medien ergibt, lässt sich feststellen: Die allermeisten Vietnamesen sind mit dem Vorgehen der Regierung einverstanden. Sie sind stolz darauf, dass Vietnam in der Krise vergleichsweise gut abschneidet. Der oberste Corona-Bekämpfer, Vizepremierminister Vu Duc Dam, wird auf Facebook als "nationaler Held" gefeiert.
Die allerwenigsten stört es, dass diese Erfolge auf das Konto eines Einparteienstaates gehen, der Freiheits- und Bürgerrechte missachtet. Auch die strengere Kontrolle der Medien als ohnehin üblich wird hingenommen. Sogar die wirtschaftlichen Kosten, die das Land trotz der bisher beeindruckend niedrigen Fallzahlen hart treffen werden, nimmt die Bevölkerung noch in Kauf. Nach Regierungsangaben mussten in den ersten zwei Monaten des Jahres bereits 3000 Firmen schließen. Große Konglomerate wie etwa Vin Group schlossen wegen ausbleibender Touristen Dutzende Hotels und Resorts. Die Mitarbeiter verlieren ihr Einkommen.
Die Regierung stellt 1,1 Milliarden US-Dollar für die Wirtschaft zur Verfügung. Allerdings gehen die Finanzbehörden davon aus, dass die Steuereinnahmen wegen der Krise wegbrechen. In den Medien und per SMS ruft die Regierung die Bevölkerung deshalb zu freiwilligen Spenden auf. Und die Menschen spenden, weil sie in dieser Krise an die Regierung und den Kampf gegen Corona glauben.
Bei dem Artikel handelt es sich um eine aktualisierte Version eines bereits am 30. März 2020 veröffentlichen Beitrags.