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PolitikVietnam

Vietnam: Land ohne Frauen

31. August 2023

In kaum einem Land ist die Geschlechterverteilung ungleicher als in Vietnam. Die Folgen sind dramatisch. Das asiatische Land steuert gegen. Mit Erfolg?

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Junge vietnamesische Frau mit traditionellem Hut
Die Frauen werden in Vietnam immer wenigerBild: Bildagentur-online/AGF-Hermes/picture alliance

In Vietnam fehlen die Frauen. Diese Tatsache ist inzwischen sogar Thema, wenn sich vietnamesische Mütter abends nach der Arbeit treffen und über ihre Kinder reden. Vor wenigen Jahren noch war eine der größten Sorgen, dass eine Tochter Mitte zwanzig noch nicht verheiratet war. Sie galt dann als "ế", was sich mit "unverkäuflich" übersetzen lässt. Doch inzwischen haben sich Angebot und Nachfrage, wenn man in der kaufmännischen, Frauen missachtenden, Sprache bleibt, so sehr verschoben, dass die Sorge der Mütter verstärkt ihren Söhnen gilt. Genügt seine Ausbildung? Verdient er genug Geld? Weiß er sich zu benehmen? Wenn nicht, sinken seine Aussichten, eine Frau zu finden. 

Schon heute gibt es unter den 0- bis 19-jährigen Vietnamesen 1,2 Millionen mehr Jungen als Mädchen, wie der landesweite Zensus von 2019 gezeigt hatte. Nur wenige andere Länder weisen eine derartige Geschlechterungleichheit auf wie Vietnam. Zu nennen wären etwa China und Indien. Die gesellschaftlichen Folgen sind dramatisch für die Männer, die keine Frauen finden, aber vor allem für Frauen, die als umkämpfte "Ware" verstärkten Zwängen ausgesetzt sind. 

In Vietnam werden Jungen bevorzugt

Dass heute so viel mehr Jungen als Mädchen in Vietnam leben, hat verschiedene Gründe. Die Studie "Geschlechterverteilung in Vietnam" von 2018 nennt drei Hauptgründe: 

Erstens ist das Ungleichgewicht eine Folge der gesellschaftlichen Bevorzugung von Jungen. Traditionell zählt der weibliche Nachwuchs weniger als der männliche. Der in Vietnam dominante Konfuzianismus steht für streng getrennte Geschlechterrollen und die Unterordnung der Frau unter den Mann. Mit der Eheschließung wechseln die Frauen in die Familie des Mannes und sind damit für die eigene Familie "verloren". Da der Staat nur ein unzureichendes soziales Netz bzw. die Altersversorgung unsicher ist, sind die Eltern darauf angewiesen, dass ihre Söhne sie im Alter versorgen.

Ultraschall und Zwei-Kind-Politik

Zweitens hat die große Verbreitung vorgeburtlicher Untersuchungsmethoden wie etwa der Ultraschall es möglich gemacht, das Geschlecht des ungeborenen Kindes zu ermitteln, obwohl die Regierung 2003 eine Ultraschalluntersuchung zur Identifikation des Geschlechts verboten hatte. Heute kennen 83 Prozent der Schwangeren das Geschlecht ihres Kindes vor der Geburt, wie das "Country Gender Equality Profile" der Vereinten Nationen 2021 berichtete.

Eine Ultraschalluntersuchung im Tu Du Krankenhaus in Hanoi
Seit Ultraschall flächendeckend eingeführt wurde, kommt es in Vietnam vermehrt zur Abtreibung weiblicher FötenBild: Pascal Deloche/GODONG/picture-alliance

Drittens hat die Politik zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums einen Einfluss auf die Geschlechterungleichheit. Die vietnamesische Regierung hat 1988 eine Zwei-Kind-Politik beschlossen, die allerdings nicht rigide durchgesetzt wird. Da sich jede Familie einen Sohn wünscht, der die eigene Linie fortführt, kommt es, insbesondere bei der zweiten oder dritten Schwangerschaft zu einer vermehrten Abtreibung weiblicher Föten. 

Die Folgen für Frauen sind eindeutig, so Khuat Thu Hong, Direktorin des Instituts für soziale Entwicklungsstudien in Hanoi im Gespräch mit der DW. "Vietnamesische Frauen stehen unter einem extremen Druck, einen Sohn zu gebären. Gelingt es nicht, wird ihr Ehemann und ihre Familie sie wahrscheinlich schlecht behandeln, insbesondere in ländlichen Regionen."

Menschenhandel und Instabilität

Die gesellschaftlichen Folgen des Fehlens von Frauen sind, anders als man vielleicht erwarten würde, keine Aufwertung oder Verbesserung der Stellung oder des gesellschaftlichen Ansehens derselben, sondern ein verschärfter Wettbewerb. Frauen werden vermehrt Opfer von "Zwangsverheiratung, Menschenhandel und andere Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen", so die Studie "Geschlechterverteilung in Vietnam" von Tran Thi Bich Ngoc und anderen Autoren. Hinzu kommt die Zunahme von Prostitution und andere Formen der sexuellen Ausbeutung. Zugleich steigt das Risiko sozialer Unruhen, da die Zahl der sozial und sexuell frustrierten Männer wächst. 

Diese Effekte werden sich weiter verstärken, denn die Ungleichheit wird wachsen, wenn es der Regierung nicht gelingt, stärker gegenzusteuern. Der relative Überschuss junger Männer in der Alterskolonne zwischen 20 und 39 Jahren wird von heute 3,5 bis 2059 auf 10 Prozent anwachsen, so die UN. Jeder zehnte Mann im ehefähigen Alter würde also rein rechnerisch keine Frau finden können. 

Starke Gesetze, aber schwacher Sozialstaat

Um die Geschlechterungleichheit zu verringern, ist ein ganzes Maßnahmenpaket nötig, sagt Khuat Thu Hong der DW. Es gehe schließlich um nicht weniger, als eine jahrhundertelange kulturelle Prägung zu verändern. Es brauche Gesetze, Aufklärung und einen stärkeren Sozialstaat.

Das Parlament in Vietnam hat 2006 ein Gleichstellungsgesetz verabschiedet, 2013 erhielt das Verbot von Genderdiskriminierung sogar Verfassungsrang. Aktuell implementiert die Regierung den zweiten Zehnjahresplan zur Förderung der Geschlechtergleichheit, die "Nationale Strategie zur Gendergleichheit 2021-2030". Khuat Thu Hong ist überzeugt: "Es gibt einen starken politischen Willen der Regierung in Vietnam, Gendergleichheit zu fördern."

Das Bewusstsein des Problems sei ebenfalls deutlich gewachsen: "Heutzutage sind sich die Menschen bewusst, dass die Gleichstellung der Geschlechter eine gute Sache ist, aber die Kultur und Tradition sind immer noch sehr stark." 

Aber Gesetze und Bewusstsein allein genügten nicht. Auch auf der materiellen Ebene müsse sich etwas verändern. "Solange wir das Sozialsystem, das soziale Netz nicht verbessern, kann die Veränderung nicht sehr weit gehen", so Khuat Thu Hong. Die Kinder müssen von der materiellen Verantwortung für ihre Eltern befreit werden. Dazu müssten zum Beispiel mehr Vietnamesen ins Rentensystem integriert werden. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ist es gegenwärtig nur etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerung.

Trotz mancher Hürden sieht Khuat Thu Hong aber grundsätzlich eine Veränderung in die richtige Richtung. Die Ungleichheit der Geschlechterverteilung bei Geburt hat zwischen 2003 und 2013 ihren Höhepunkt erreicht und in den vergangenen Jahren langsam abgenommen. Dieser Trend müsse nun verstärkt werden.

Rodion Ebbinghausen DW Mitarbeiterfoto
Rodion Ebbighausen Redakteur der Programs for Asia