Viele Impfstoffe derzeit ausverkauft
30. Januar 2016Die Liste auf der Webseite des Paul-Ehrlich-Instituts ist lang. Bei insgesamt über 20 Impfstoffen unterschiedlicher Hersteller besteht im Moment ein Engpass. Hexal, Astra Zeneca, GlaxoSmithKline, Sanofi Pasteur und andere Unternehmen können einen oder mehrere ihrer Produkte nicht mehr liefern.
Per Definition des Paul-Ehrlich-Instituts besteht ein Lieferengpass, wenn die Substanz länger als zwei Wochen nicht im üblichen Umfang geliefert werden kann. Das ist neu, denn früher waren das einige Monate. Einige Impfstoffe sind laut Liste schon im kommenden Monat wieder verfügbar, andere erst wieder im Januar 2017. Bei einigen verzögert sich die Lieferung "auf unbestimmte Zeit".
Eines vorweg: Dass so viele Flüchtlinge in Deutschland ankommen und geimpft werden, ist nicht am Engpass schuld, versichert das Robert-Koch-Institut der Deutschen Welle: "Die Engpässe gab es weitgehend auch schon vor den Flüchtlingen." Es sind auch in Deutschland typische Reiseimpfungen dabei, wie ein Kombinationsimpfstoff gegen Typhus und Hepatitis A.
Halb so wild
Müssen wir uns jetzt um unsere Impfsicherheit Sorgen machen? Die Pressestelle des Paul-Ehrlich-Instituts winkt ab: Es sei alles weniger schlimm als es aussehe. Grippeimpfungen beispielsweise "sind jedes Jahr ab Dezember generell nicht mehr lieferbar", denn das seien Saisonimpfstoffe. Ein Fünffach-Impfstoff zur Grundimmunisierung von Kindern sei derzeit zwar ausverkauft, aber ließe sich durch den Sechsfach-Impfstoff - der zusätzlich einen Schutz gegen Hepatitis B enthalte - ersetzen.
Woran genau es liegt, dass derzeit ein Mangel an Impfstoffen besteht, ist nicht bekannt, sagt Susanne Stöcker, Pressesprecherin vom Paul-Ehrlich-Institut. Teilweise gab es Probleme in der Herstellung. Generell aber komme es schnell zu einem Engpass, wenn weltweit der Bedarf steigt, weil sich mehr Menschen in anderen Ländern nach Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation impfen.
Krankheitserreger müssen sich wohl fühlen
Schwierigkeiten in der Impfstoffherstellung sind keine Seltenheit. Regelmäßig kommt es zu Lieferengpässen. "Impfstoffe sind Naturprodukte", sagte Rolf Hömke, Referent beim Verband Forschender Arzneimittelhersteller vfa bei einer früheren Recherche der Deutschen Welle. Bei der Impfstoffproduktion gehe es darum, Lebewesen zu vermehren und "da kann es durchaus mal sein, dass die Ernte verhagelt."
Bei einer Impfung soll das Immunsystem das charakteristische Merkmal eines Krankheitserregers erkennen und sich auch später noch daran erinnern. Impfstoffe bestehen daher aus Bakterien, Viren oder charakteristischen Teilen von ihnen.
Egal, welche Art von Impfstoff man herstellt: Ohne das Vermehren von Viren oder Bakterien im Labor, geht nichts. Und das dauert seine Zeit, denn nicht alle Krankheitserreger vermehren sich rasant schnell. Außerdem müssen die Wissenschaftler dafür sorgen, dass sich die Bakterien und Viren wohlfühlen. Sie brauchen die richtigen Nährstoffe, Temperaturen und Umgebungsbedingungen.
Dabei ändern die Erreger ihre Vorlieben auch schon mal - so wie Gäste in einem Hotel, erläuterte Irene von Drigalski, damals Pressesprecherin des Impfstoffherstellers Novartis Vaccines, im Rahmen eines früheren DW-Interview: "Der eine möchte zum Frühstück ein Spiegelei essen, der andere lieber ein hartgekochtes Ei. Aber es kann durchaus sein, dass der erste Gast ein Jahr später wieder kommt und dann lieber ein weichgekochtes Ei anstelle eines Spiegeleis hätte."
Novartis Vaccine hat inzwischen seine Impfstoffsparte an GlaxoSmithKline verkauft. Generell werden Impfstoffhersteller eher weniger als mehr, sagt Susanne Stöcker vom Paul-Ehrlich-Institut. "Das Verhältnis von Aufwand zu Gewinn ist bei der Impfstoffherstellung im Vergleich zur gewöhnlichen Medikamentenherstellung lächerlich." Mit Impfstoffen lässt sich einfach nicht viel Geld verdienen. Zu heikel ist der Produktionsprozess.
Vermehren und vermehren lassen
Bakterien lassen sich direkt in einem Nährmedium in großen Kesseln züchten. Viren hingegen sind per Definition keine Lebewesen, weil sie immer andere Zellen zur Vermehrung brauchen. Die Hersteller stellen Impfstoffe gegen Virenkrankheiten daher oft in tierischen Zellen in Petrischalen her. Diese Zellen befällt das Virus, lässt sich von ihnen vervielfältigen und am Ende können die Wissenschaftler die fertigen Krankheitserreger aus der Kulturbrühe gewinnen.
Impfstoffhersteller vermehren den Erreger in Zellen. Diese Zellen stammen allerdings nur ursprünglich aus Menschen oder Tieren. Inzwischen sind sie reine Laborzellen geworden, denn sie sind so manipuliert, dass sie sich wie Krebszellen quasi unbegrenzt teilen.
Viren befallen solche Zellen aber nicht von Natur aus. Die Wissenschaftler müssen sie erst daran gewöhnen: Mit der Zeit passen sich die Viren über Mutationen an den neuen Wirt an. "Die Kunst ist es, Viren zu bekommen, die sich in diesen Zellen gut vermehren, aber sich noch nicht so weit verändert haben, dass sie für die Impfung nicht mehr taugen", erklärt Rolf Hömke von der vfa. Denn dann würden sie im Körper nicht die gewünschte Schutzwirkung hervorrufen.
Wenn die Hersteller einmal einen passenden Virusstamm haben, müssen sie dafür sorgen, dass der sich möglichst wenig weiter verändert. Die Lösung: Riesige Mengen dieses Virus in Portionen einfrieren und für jede neue Produktion eine Portion auftauen.
Das ist auch der Grund, warum Impfstoffe stets nur chargenweise produziert werden und nie kontinuierlich, erklärt Hömke: Damit lässt sich verhindern, dass sich ein einmal optimierter Virusstamm weiter verändert: "Bei fast allen Impfungen ist der Impfstoff, den Sie heute bekommen, noch nahezu der gleiche wie vor 20 Jahren", sagt Hömke.
Für den Mülleimer produziert
Die Hersteller müssen jede Charge eines Impfstoffs nach der Produktion ausführlich testen: Sie überprüfen, ob er wirkt, ob Versuchstiere also tatsächlich Antikörper gegen den Krankheitserreger bilden. Außerdem muss der Impfstoff eine große Palette an Qualitätsvorgaben erfüllen: Er muss absolut sauber und steril sein.
Es kann vorkommen, dass die gewünschte Immunreaktion am Tier ausbleibt, der Impfstoff unerwünschte Nebenwirkungen zeigt oder verunreinigt ist. "Dann bleibt dem Hersteller manchmal nichts anderes übrig, als die gesamte Charge einzutrocknen und zu verbrennen", sagt Rolf Hömke.
In dem Fall kommt es zu Lieferproblemen auf dem Markt. Denn wenn sich nach Monaten herausstellt, dass eine Charge verdorben ist, lässt sich nicht einfach so eine weitere nachschieben. Laut Impfstoffhersteller Sanofi Pasteur dauert ein Produktionszyklus je nach Impfstoff zwischen sechs und 22 Monaten, vor allem aufgrund der umfangreichen Tests und Kontrollen, die nötig sind.
Aber selbst wenn bei der Herstellung nichts schief geht: Wenn sich plötzlich mehr Menschen als bisher gegen eine Krankheit impfen lassen wollen, kommt es zu Engpässen. Das Angebot lässt sich einfach nicht so schnell der gestiegenen Nachfrage anpassen, erklärt Rolf Hömke: "Man kann halt nicht schnell mal den Kopierer anwerfen, wenn noch ein paar Exemplare mehr gebraucht werden."