Viel mehr Lehrer braucht das Land
8. Oktober 2015Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland und unter ihnen immer mehr schulpflichtige Minderjährige. Eine Bildungsstudie des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache kommt zu dem Ergebnis: Dieser massive Zuzug wird das Schulsystem langfristig verändern. Seit 2006 hat sich der Anteil der 6- bis 18-jährigen Einwanderer nach Deutschland vervierfacht. Allein im vergangenen Jahr wuchs die Zahl der Kinder und Jugendlichen von 22.000 auf rund 100.000.
Die Frage, wie neu zugewanderte Schüler ins Bildungssystem aufgenommen werden können, sei jahrelang vernachlässigt worden, sagte Professor Michael Becker-Mrotzek, der Direktor des Mercator-Instituts."Die Zahl wächst mit großer Geschwindigkeit und gerade diese Schnelligkeit stellt die Schulen und Lehrkräfte vor große Herausforderungen."
Schulpflicht - so schnell wie möglich organisieren
Das Bildungssystem muss umgebaut werden, das legt die Studie nahe. Eine zentrale Forderung: Die Neuankömmlinge müssen möglichst schnell ins Schulsystem integriert werden. Hier gibt es bislang deutliche Unterschiede, weil das Schulsystem in Deutschland von den Bundesländern organisiert wird.
Während in Baden-Württemberg die Schulpflicht erst nach sechs Monaten in Deutschland gilt, müssen schulpflichtige Einwanderer in Bayern und Thüringen nach drei Monaten in die Schule. Nur in Berlin und im Saarland gilt die Schulpflicht bislang vom ersten Tag. Studienautorin Mona Massumi vom Zentrum für Lehrerinnenausbildung (ZfL) fordert eine Angleichung der Standards. Je früher die Kinder und Jugendlichen integriert würden, desto besser, sagt Massumi.
Aber auch die Frage, wie die Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse am besten unterrichtet werden sollen, muss neu beantwortet werden, sagen die Studienmacher. Es müsse in allen Bundesländern vergleichbare Maßstäbe geben, wie viel Sprachförderung jedes Kind braucht, um dem Unterricht auf Deutsch folgen zu können. Zudem müsse geklärt werden, ob Parallelklassen mit Sprachförderung das beste Mittel seien, um die Schüler nach einem bis zwei Jahren in den Regelunterricht zu integrieren. Absehbar sei, so die Ko-Autorin der Studie Nora von Dewitz, dass der Bedarf an zusätzlicher Sprachförderung "von Schulform zu Schulform stark variieren kann."
Ohne Betreuung und Sprachförderung geht es nicht
Je jünger die Kinder sind, desto schneller sollten sie aber in den Regelschulbetrieb mit ergänzender Sprachförderung kommen. "Grundschulen haben mit der Heterogenität der Schüler mehr Erfahrung als weiterführende Schulen", sagt Becker-Mrotzek.
Je älter die Kinder sind, desto stärker unterscheiden sich Wissen und Kompetenz der Schüler. Deshalb dürften vor allem ältere Flüchtlingskinder häufiger in eigenen Parallelklassen landen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Patentrezepte gebe es nicht, sagt Becker-Mrotzek. Nur eines könne man ausschließen: Dass die Flüchtlingskinder ohne Betreuung und ohne Sprachförderung in ganz normale Klassen gehen könnten.
Das liege vor allem daran, dass sich die Herkunftsländer der schulpflichtigen Einwanderer geändert hätten. Bis 2014 war der Zuzug geprägt vom benachbarten, europäischen Ausland. 60 Prozent stammten aus Polen, Rumänien, Russland, Bulgarien oder Serbien. Seit 2014 kommen besonders viele junge Syrer nach Deutschland. Studienautorin von Dewitz sagt: "Der Zuzug junger Syrer hat sich in den vergangenen drei Jahren nahezu verzehnfacht".
Wohin mit den 18-jährigen Einwanderern?
Auf weiterführende Schulen kommen besonders große Herausforderungen zu: Denn die Zahlen für 2014 zeigen, dass unter den minderjährigen Einwanderern besonders viele 18-Jährige waren. In Deutschland ist diese Altersstufe nicht mehr schulpflichtig. Das wirft Fragen auf: Müssen diese 18-Jährigen ins normale Schulsystem zurückgestuft werden? Oder braucht man eine Flexibilisierung der Schulpflicht, die an Mindeststandards des Spracherwerbs gekoppelt ist? Noch gibt es darauf keine Antwort. Nur so viel scheint klar zu sein: Sprachförderung muss künftig Alltagsgeschäft an deutschen Schulen sein.