"Märkte sind kein verfassungsrechtliches Kriterium"
12. Juli 2012Deutsche Welle: Herr Prof. Degenhart, welchen Eindruck hatten Sie von der mündlichen Verhandlung, die ja doch recht lang gedauert hat?
Prof. Dr. Christoph Degenhart: Gerade, dass die Verhandlung so lang gedauert hat - wir haben immerhin elf Stunden verhandelt, womit niemand gerechnet hatte - zeigt, dass die Richter unsere Sorgen und Bedenken sehr, sehr ernst nehmen. Sie wollen sich gründlich mit der Sache auseinander setzen.
Wie unterscheidet sich dieses Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz von anderen Verfahren in Sachen Euro-Rettung?
Ich war bei den letzten Verfahren in Sachen Euro-Rettung nicht unmittelbar beteiligt. Aber ich denke, dass wir dem Gericht schon vermitteln konnten, dass die jetzt anstehenden Maßnahmen zur Euro-Rettung - falls man davon sprechen will, in Wahrheit ist es ja Banken-Rettung -, dass diese Maßnahmen jedenfalls eine andere Dimension erreicht haben als die bisherigen.
Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat Bedenken dagegen geäußert, dass sich das Gericht offenbar längere Zeit nehmen will, um im Eilverfahren zu entscheiden. Er warnt vor Turbulenzen an den Märkten, die die Verzögerung hervorrufen könnte. Wie begegnen Sie diesen Bedenken?
Zunächst einmal sind die Märkte kein verfassungsrechtliches Kriterium. Aber auch in der Sache habe ich nicht festgestellt, dass nach der Verhandlung in Karlsruhe besondere Nervosität an der Börse herrschen würde, die Kurse abgestürzt seien oder anderes mehr. Vielmehr hat der Bundesbankpräsident Jens Weidmann schon ausgeführt, dass die Märkte diese Verzögerung bereits "eingepreist" hätten. Die Märkte reagieren also durchaus normal auf diese Entwicklungen. Und ich halte die Befürchtungen für weit übertrieben. Wir können uns gern in drei Wochen noch einmal sprechen, am ursprünglich anvisierten Termin zur Entscheidung im Eilverfahren. Wenn die Prophezeiungen des Finanzministers eintreffen, hätten wir dann ja das totale Chaos und der Weltuntergang stünde kurz bevor. Sie werden aber sehen: Das wird nicht der Fall sein.
Ich nehme Sie beim Wort: Wir sprechen in drei Wochen wieder. Aber zurück zu Bundesbankpräsident Jens Weidmann. Der sagte in der mündlichen Verhandlung, die Folgenabwägung, die das Gericht im Eilverfahren vornehmen muss, sei "höchst spekulativ". Tatsächlich wurden kaum objektive Zahlen genannt, nur solche, die die Parteien brauchen, um ihre Position zu untermauern. Wie valide kann also eine solche Folgenabwägung des Bundesverfassungsgerichts sein?
Gerade weil niemand belastbare Berechnungen vorlegen kann, bewegen sich die Folgen, die beschworen werden, in der Tat im rein Spekulativen. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch den Schaden, den ein sofortiges Inkrafttreten der Verträge zu ESM und Fiskalpakt für die Demokratie bedeuten würde, mit einbeziehen. Und diese Folgen sind valide belegbar. Wir haben also auch bei der Folgenabwägung die stärkeren Argumente auf unserer Seite.
Prof. Dr. Christoph Degenhart ist Staats- und Verwaltungsrechtler und Experte für Staatsrecht sowie Rundfunk- und Medienrecht. Er forscht und lehrt an der Universität Leipzig. Als Prozessbevollmächtigter vertritt er mit der früheren Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin im Auftrag des Vereins von "Mehr Demokratie e.V." etwa 23.000 Beschwerdeführer im Verfahren gegen ESM-Vertrag und Fiskalpakt vor dem Bundesverfassungsgericht.