Eine verstörende Tat - was treibt Amokläufer an?
30. Januar 2014Wie entsteht Gewalt? Und was treibt junge Gewalttäter an? Diese Fragen stellte sich Thomas Sieben schon vor ein paar Jahren, als er bei der Berlinale sein bemerkenswertes Spielfilmdebüt "Distanz" vorstellte. Damals ging es um einen jungen Mann, der scheinbar wahllos immer wieder auf fremde Menschen schießt. Mit seinem zweiten Film ist Sieben zum Thema zurückgehrt, hat es aber variiert. In "Staudamm" geht es um einen Amoklauf an einer Schule - ein Delikt, das sich in jüngster Zeit so häufig vor allem in den USA und in Deutschland zugetragen hat.
Keine einfachen Antworten
In Saarbrücken beim Max Ophüls Preis feierte der Film "Staudamm" im vergangenen Jahr Weltpremiere. Um was geht es dem Regisseur in seinem neuen Film? Und vor allem: Weshalb nimmt er eine so auffallend distanzierte Haltung zu seinem Sujet ein? Das Thema sei zu komplex für einfache Antworten, sagt Sieben im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Ich frage mich doch selber, warum so etwas passiert." Einfache Antworten für eine solche Tat könne es nicht geben.
"Man muss einfach sehr genau hinschauen", sagt der junge Regisseur und fügt hinzu: "Man hat auch eine Verantwortung bei dem Thema." Der müsse man sich stellen, sonst handele man geradezu fahrlässig. Ihm und seinem Co-Autor Christian Lyra habe eine Art Kaleidoskop vorgeschwebt, eine filmische Collage, in der verschiedene Fragmente des Themas vorgestellt und unterschiedliche Blickwinkel eröffnet werden sollten.
Indirekte Annäherung
Der Film zeigt die eigentliche Tat dann auch nicht im Bild, sondern beginnt seine Filmerzählung erst ein Jahr nach dem Attentat. Der junge Roman (Friedrich Mücke) arbeitet für einen Staatsanwalt, der Akten für die Aufarbeitung des Falles zusammenstellt. Roman begibt sich zum Schauplatz der Tat, ein Dorf im Allgäu. Dort sammelt er Unterlagen bei den zuständigen Polizeibehörden, stellt Dossiers zusammen, versucht Kontakt aufzunehmen zu Angehörigen der Opfer. Bei seinen Recherchen begegnet er auch der jungen Laura (Liv Lisa Fries), die den Amoklauf hautnah miterlebt hat. Laura und Roman kommen ins Gespräch, freunden sich an.
Über diesen Kontakt nähern sich der Film und somit auch der Zuschauer dem Thema an: vorsichtig, distanziert, behutsam. "Staudamm" verzichtet auf einfache Erklärungsmuster. Natürlich könne eine zurückgewiesene Liebe in der Pubertät eine Rolle bei so etwas spielen, sagt Sieben. "Jeder, der so etwas erlebt hat, weiß, was das bedeutet. Das ist schlimmer als eine 6 in Mathe." Doch das allein könne nicht der Grund für eine solche Tat sein.
Streitfall Computerspiele
"Staudamm" deutet andere Motive an: Kleinstadtmief, Leben in der Provinz, die Enge in den Köpfen der Menschen. Auch dass Roman in einer Szene des Films am Computer sitzt und spielt, will der Regisseur nicht als entscheidenden Hinweis verstanden wissen. Sieben entwickelt selbst Spiele und arbeitet als Journalist zum Thema Games. Er kennt sich aus: "99 Prozent aller männlichen Jugendlichen spielen doch am Computer, 90 Prozent davon auch Ego-Shooter. Wir sind alle damit aufgewachsen. Das ist sicher nicht der Grund."
Es sind Stimmungen, Andeutungen, atmosphärische Hinweise, die der Film gibt, mehr nicht. Eine einfache Erklärung für solch eine Tat sei Pornografie, drückt es Co-Autor und Produzent Christian Lyra drastisch aus. Was er damit meint? Wenn ein Film zu einfache Lösungsmöglichkeiten anbiete, sei das verantwortungslos und gefährlich. "Roman nähert sich der unfassbaren Tat im Film, so wie es der Zuschauer vor der Leinwand tut. Unser Held kommt von weit außen und begibt sich dann auf eine Reise ins Herz der Finsternis." Für Co-Produzent Felix Parson war es wichtig, das Thema Amoklauf auf eine nachhaltige Art und Weise zu behandeln, nicht im sonst üblichen Boulevard-Stil.
Schwierige Rolle für Liv Lisa Fries
Eine große Herausforderung war der Film auch für die junge Schauspielerin Liv Lisa Fries: "Die Rolle ist ganz weit weg von mir. Ich habe so etwas nicht selbst erlebt. Für mich war das genauso eine Reise wie für die Figur im Film. Am Anfang wusste ich nicht, wohin ich mich bewege."
Aus all diesen Gründen überzeugte "Staudamm" beim Festival in Saarbrücken im vergangenen Jahr die Zuschauer. Vielleicht auch, weil er sich eines Themas annimmt, das abweicht von den üblichen Sujets vieler Debütanten, Geschichten von jungen Leuten, Großstadtleben, Schwierigkeiten beim Erwachsenwerden. "Staudamm" blickt tief hinein in die Abgründe der modernen Gesellschaft, beobachtet, ohne den moralischen Zeigefinger zu heben. In "Staudamm" wird niemand auf die Anklagebank gesetzt.
"Staudamm" wurde vor dem Kinostart auch vor Schulklassen gezeigt. Das jugendliche Publikum wird nicht mit moralischen Hinweisen konfrontiert. "In jedem von uns steckt doch ein Amokläufer", sagte ein Schüler nach einer Vorstellung. So erschreckend die Aussage ist, so gut ist es doch, wenn sich Regisseure mit diesen Themen beschäftigen. Wenn sie mit einem jungen Publikum dann auch noch darüber ins Gespräch kommen, ist schon viel erreicht.