Verschwörungstheorie, -mythos oder -ideologie?
2. Juni 2020Während der Corona-Pandemie erhält wissenschaftliches Arbeiten deutlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit - vor ein paar Monaten wäre es noch unvorstellbar gewesen, dass sich große Leitmedien über Tage hinweg mit der wissenschaftlichen Diskussion zu einer bestimmten virologischen Studie auseinandersetzen.
Gleichzeitig bekommen aber auch spezielle "Theorien" Zulauf, die nichts mit wissenschaftlicher Empirie gemein haben: So wird behauptet, dass das neue Coronavirus wahlweise frei erfunden oder von Menschen erschaffen worden sei. Eine Befragung im Rahmen einer Studie der Universität Erfurt und weiterer Forschungspartner Mitte Mai ergab, dass je 17 Prozent eine der beiden Aussagen glaubten - zehn Prozent sogar beide. Rund um Corona kursieren noch wesentlich haarsträubendere Behauptungen, zum Beispiel dass der IT-Milliardär und Philanthrop Bill Gates im Rahmen einer verpflichtenden Impfung den Menschen Mikrochips implantieren wolle, um sie zu kontrollieren.
Derlei Behauptungen werden meist "Verschwörungstheorie" genannt - aber aus sprachlicher Sicht gibt es treffendere Begriffe.
"Verschwörungstheorie"
Um das Phänomen zu beschreiben, ist kein Begriff im Deutschen so verbreitet wie der der "Verschwörungstheorie". Doch er ist irreführend: "Der Theoriebegriff meint ja eben genau, dass man eine Annahme hat auf Basis von Fakten", sagt die Sozialpsychologin Pia Lamberty von der Universität Mainz. "Wenn die Fakten nicht zur Theorie passen, muss die Theorie irgendwann angepasst oder verworfen werden", sagt Lamberty der DW. "Und genau das passiert bei Verschwörungserzählungen eben nicht."
Der Politikberater Johannes Hillje schreibt auf Twitter, der Begriff "Theorie" habe "gar einen wissenschaftlichen Anklang, mit dem man diesen Unfug nicht adeln sollte". Hillje befürchtet, dass der Begriff "Verschwörungstheorie" dazu führen könnte, dass deren Verbreiter sich als "Gegenwissenschaft" verstanden fühlen.
"Verschwörungsmythos" / "-erzählung"
Pia Lamberty, die mit einem Sachbuch zu dem Thema auch gerade in diversen Bestsellerlisten auftaucht, unterscheidet im eigenen Sprachgebrauch zwischen "Verschwörungsmythos" und "Verschwörungserzählung": "Eine Verschwörungserzählung, das sind diese konkreten Geschichten, also wenn Menschen annehmen, dass es sich bei 9/11 um einen 'Inside Job' handele (also, dass Verschwörer von innerhalb der US-Regierung für den Anschlag verantwortlich seien; Anm. d. Red.) oder dass Prinzessin Diana noch leben würde. Der Verschwörungsmythos ist für mich eher das abstrakte, übergeordnete Motiv, also so etwas wie die 'jüdische Weltverschwörung', die sich dann in konkreten Verschwörungserzählungen wiederfindet und auch gesellschaftlich anpasst, also aktualisiert." Als Beispiel nennt sie Verschwörungserzählungen über den ungarisch-amerikanischen Milliardär George Soros, die wiederum auf den antisemitischen Mythen um eine vermeintliche jüdische Weltverschwörung aufbauen.
Beide Begriffe haben gemein, dass sie häufig weiter überliefert und dadurch immer wieder ergänzt und verändert werden..
"Verschwörungsideologie"
Manche Verschwörungserzählungen sind derart komplex, dass sie ein geschlossenes Weltbild errichten und der Begriff Ideologie angemessen ist: Ausgehend von den USA verbreitet sich in einschlägigen Foren etwa die Behauptung, ein Geheimbund halte Tausende entführte Kinder in Verliesen gefangen und trinke deren Blut, um jung zu bleiben. US-Präsident Donald Trump gilt den Anhängern der Ideologie als Befreier, sein Vorgänger Barack Obama und seine Herausforderin im Wahlkampf 2016 Hillary Clinton als Mitglieder der Verschwörung. Ihren Namen leitet die Ideologie von einem anonymen angeblichen US-Regierungsmitarbeiter mit der Sicherheitsfreigabestufe "Q" ab - "QAnon".
Ein weiteres Beispiel für eine Verschwörungsideologie liefern die sogenannten Reichsbürger, die im Kern der Ansicht sind, das Deutsche Reich bestehe weiter fort und die Institutionen der Bundesrepublik seien daher nicht legitimiert. Reichsbürger vertreten häufig rechtsradikale Positionen, außerdem gibt es gewisse Überschneidungen zur Prepper-Szene, deren Anhänger sich auf Kriegs- und Weltuntergangsszenarien vorbereiten (von englisch "to prepare"). Am Beispiel Reichsbürger lässt sich gut veranschaulichen, wie gefährlich Verschwörungsideologien werden können: Im Oktober 2016 tötete ein schwer bewaffneter mutmaßlicher Reichsbürger einen Polizisten.
Während selbsternannte Reichsbürger gemeinsam mit anderen Verschwörungserzählern und Extremisten, aber auch harmloseren Demonstranten gegen die Corona-Beschränkungen demonstrieren, verbot Bundesinnenminister Horst Seehofer erstmals eine Reichsbürger-Gruppe.