Zweiter Weltkrieg: Sohn findet Vater
6. Mai 2020Diesen Tag im Juni 2019 wird Karl Cramm nie vergessen: Da bekam er eine Nachricht, mit der er nicht mehr gerechnet hatte. Der 83-Jährige erinnert sich genau, wie er den Brief öffnete und staunend las, dass die sterblichen Überreste seines Vaters gefunden worden waren. Absender des Schreibens war das Bundesarchiv in Berlin, das bei der Klärung von Vermisstenschicksalen hilft. 76 Jahre waren vergangen, seit sein Vater, ein Wehrmachtssoldat, in Stalingrad verschollen war. "Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war ich fünf Jahre alt."
Die letzte Feldpost des Vaters war Anfang Januar 1943 im Örtchen Groß Lafferde in der Nähe von Braunschweig angekommen, wo die Familie heute noch wohnt. Danach kamen die Briefe ungelesen zurück, die die Mutter ins 3000 Kilometer entfernte Stalingrad geschickt hatte. "Da war die Trauer groß."
Es fehlte jedes Lebenszeichen vom Vater, der 1939 von der Wehrmacht eingezogen und an die Front geschickt worden war. Anfang 1942 bekam der Obergefreite den Marschbefehl nach Russland. Die Schlacht um Stalingrad, das die Wehrmacht auf ihrem Russlandfeldzug angegriffen und im eisigen Winter 1942/43 belagert hatte, war eine der schrecklichsten und verlustreichsten des Zweiten Weltkriegs.
Kindheit ohne Vater
In den Jahren nach dem Krieg habe ihm sein Vater sehr gefehlt, erzählt Karl Cramm. "Ich war sehr traurig, wenn ich andere Kinder mit ihren Vätern sah und wusste, mein Vater kommt nicht wieder." Um sich das Geld für den Schulbesuch zu verdienen, half er bei der Ernte mit. "Während andere Kinder spielten, war ich mit meiner Mutter auf dem Feld."
Später arbeitete er als kaufmännischer Angestellter, gründete selbst eine Familie. Und hoffte inständig, etwas über das Schicksal seines verschollenen Vaters herauszufinden. Er hakte nach beim "Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge", der sich um die Suche nach den Kriegstoten kümmert und ihre Gräber pflegt. 1,3 Millionen deutsche Soldaten werden heute noch vermisst, schätzt der Volksbund.
Doch alle Nachforschungen waren vergebens - bis er im letzten Sommer plötzlich den Brief vom Bundesarchiv in den Händen hielt. "Im ersten Moment konnte ich gar nicht glauben, dass überhaupt noch eine Nachricht kam", erzählt der 83-Jährige. "Da war ich natürlich perplex und habe angefangen zu weinen."
Gefunden bei Bauarbeiten
Die Gebeine seines Vaters waren bei Bauarbeiten in Wolgograd, wie Stalingrad heute heißt, entdeckt worden. Sie lagen in einem Massengrab, zusammen mit den Gebeinen von mehr als 1800 weiteren deutschen Soldaten. Für Karl Cramm grenzt das an ein Wunder: "Meine Freude war verdammt groß." Wann und wie sein Vater gestorben ist, ließ sich nicht mehr klären. "Aber ich bin froh, dass ich weiß, wo er geblieben ist."
Die Marke war noch da
Dass der Gefallene aus dem Massengrab in Wolgograd überhaupt als Karl Cramms Vater identifiziert werden konnte, ist der Erkennungsmarke zu verdanken, die bei den Gebeinen gefunden wurde. Zwar musste jeder Soldat der Wehrmacht eine solche Marke am Körper tragen, damit er im Fall seines Todes identifiziert werden konnte. Doch nach Jahrzehnten in der Erde sind die Marken oft stark beschädigt oder gar nicht mehr vorhanden.
In diesem Fall war das ovale Stück Metall noch da, etwas verwittert, aber lesbar - ein Glücksfall. Nun musste die Marke nur noch entschlüsselt werden. Denn auf ihr steht nicht der Name des Soldaten, sondern nur seine persönliche Nummer.
Den Toten ihre Namen wiedergeben
Dazu wurde die Marke ins Bundesarchiv nach Berlin geschickt, dem einzigen Ort in Deutschland, an dem sie entschlüsselt werden kann. Darum kümmern sich Spezialisten wie der Historiker Robert Balsam. Bei seinen Recherchen greift er auf einen einzigartigen Archiv-Schatz zurück: eine umfassende Kartei über alle Soldaten der Wehrmacht, vom Gefreiten bis zum Generalfeldmarschall.
"Hier stehen mehr als 18,5 Millionen Karten", erklärt Balsam, während er einen der hellgrauen Karteikästen aus dem Regal zieht. Die Kartei wurde während des Krieges angelegt und nach und ergänzt. Darin vermerkt sind persönliche und militärische Daten jedes Soldaten und die Nummer der Erkennungsmarke. Bei Vermissten ist auch die Adresse der Angehörigen notiert. "Es gibt noch genug Leute, die suchen und bei denen das ein Teil ihres Lebens ist", erzählt der Historiker.
1200 Identifizierungen pro Jahr
Die Chancen, dass ein Schicksal 75 Jahre nach Kriegsende noch geklärt wird, stehen nicht so schlecht: Noch immer werden in großer Zahl gefallene Soldaten geborgen, sei es bei Bauarbeiten, bei Ausgrabungen auf ehemaligen Schlachtfeldern oder bei Umbettungen. "Pro Jahr werden hier um die 1200 Soldaten identifiziert, die klassisch noch vermisst sind", resümiert Balsam. Jede Identifizierung eines Vermissten sei für ihn "ein total besonderer Moment". Denn dann erhalte wieder eine Familie Gewissheit und einen Ort, an dem sie Blumen niederlegen und um ihren Angehörigen trauern könne. Erst danach könnten viele sagen: "Jetzt ist das für mich abgeschlossen, denn ich weiß jetzt, wo er ist."
"Ein Stück von ihm"
So erging es auch Karl Cramm. Nachdem er den Brief vom Bundesarchiv bekommen hatte, machte er sich auf den Weg nach Russland. Zusammen mit seinem Sohn reiste er nach Wolgograd, wo die Gebeine seines Vaters auf der deutschen Kriegsgräberstätte Rossoschka beigesetzt wurden. An der Zeremonie nahm er teil, legte einen Strauß weiße Lilien und ein Foto seines Vaters nieder. Auch zum Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten brachte er Blumen - als Zeichen der Versöhnung.
"Das Größte war für mich, dass man mir dort die Erkennungsmarke meines Vaters aushändigen konnte", erzählt er. "Diese Marke hat er getragen von Kriegsbeginn bis zuletzt, sie ist ein Stück von ihm." Die Marke bewahrt der 83-Jährige nun in seinem Zimmer auf, wo er sie sie jeden Tag sehen kann. "Für mich ist mein Vater zurückgekommen."