Verhaftung eines mutmaßlichen NS-Täters
8. Mai 2013Hans Lipschis wohnt in einer kleinen beschaulichen Ortschaft in Süddeutschland. Über seine Vergangenheit spricht der 93-Jährige mit der dicken Hornbrille nicht gerne. Experten glauben, dass er während des Zweiten Weltkriegs an unfassbaren Gräueltaten beteiligt gewesen sein könnte. Denn Lipschis wurde von 1941 bis 1945 im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt - möglicherweise als Wachmann und damit mitverantwortlich für den Tod von Tausenden Menschen. Lipschis selbst sagt, er sei nur Koch gewesen, habe nichts mit den Morden zu tun gehabt.
Vor Kurzem spürte ihn ein Reporter der Zeitung "Die Welt" auf. Am Montag (06.05.2013) wurde Lipschis verhaftet. Offiziell will die Staatsanwaltschaft keinen Namen nennen - die Ermittlungsbehörde spricht nur von einem 93-Jährigen, gegen den derzeit eine Anklageschrift vorbereitet wird. Auf Anfrage der Deutschen Welle wollte die Staatsanwaltschaft Meldungen, dass es sich um Lipschis handelt, aber nicht dementieren. Nach der Durchsuchung seiner Wohnung sei er der Haftrichterin vorgeführt und in Untersuchungshaft genommen worden. Ein Arzt habe festgestellt, dass der 93-Jährige haftfähig ist.
Über 50 ehemalige KZ-Wächter sollen laut der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen noch leben. Auch in diesen Fällen laufen Ermittlungen.
Seine Behörde arbeite schon seit einiger Zeit am Fall Lipschis, sagt Kurt Schrimm, Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Nähere Auskünfte zu Lipschis kann die Behörde mit Sitz in Ludwigsburg nicht geben, der Fall wurde an die Staatsanwaltschaft Stuttgart abgegeben.
Schon in den 1980er Jahren hatte die Zentrale Stelle gegen Lipschis ermittelt, doch einen Mord konnte man ihm nicht nachweisen. Doch seit dem Fall Demjanjuk hat sich die Rechtsprechung in Deutschland entscheidend geändert.
Neue Rechtsprechung
Der Prozess gegen den früheren KZ-Wächter John Demjanjuk des Vernichtungslagers Sobibor gilt als historischer Wendepunkt. Denn erstmals stand mit Demjanjuk ein nichtdeutscher NS-Befehlsempfänger vor Gericht, dem keine konkrete Tat nachgewiesen werden konnte. 2011 verurteilte das Landgericht München den Ukrainer dennoch wegen Beihilfe zum Mord in über 28.000 Fällen. Allein der Nachweis, dass Demjanjuk als Wachmann in dem Konzentrationslager gearbeitet hat, reichte dem Gericht dafür aus. Angetreten hat er die Haft-Strafe von fünf Jahren jedoch nicht. Demjanjuk ging in Revision und starb, bevor das Urteil vom Bundesgerichtshof bestätigt werden konnte.
Mit dem Demjanjuk-Urteil im Rücken hofft die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen auf weitere Verurteilungen. "Wir gehen heute davon aus, dass man einem Aufseher - also einem Gehilfen - nicht mehr einen individuellen Tatbeitrag zu einer Tötung von einem oder mehreren Häftlingen nachweisen muss, sondern es reicht der Nachweis, dass er durch seine Tätigkeit in einem Vernichtungslager dazu beigetragen hat, dass die gesamte Todesmaschinerie dort funktioniert hat", sagt der Leiter der Zentralen Stelle, Schrimm.
Klarsfeld: "Justiz macht sich lächerlich"
Die Suche nach den ehemaligen NS-Schergen ist kompliziert. Schrimms Mitarbeiter recherchieren in Archiven, durchforsten alte Prozessakten. Auch in Osteuropa und Südamerika fahndet die Zentrale Stelle nach Hinweisen, wie etwa Einreisedokumenten. Häufig reisten Nazi-Verbrecher mit Papieren des Internationalen Roten Kreuzes in ihr neues Heimatland.
Der Behörde bleibt dabei nicht mehr viel Zeit. Denn die Täter sind - falls noch nicht gestorben - zumindest im Greisenalter. Eine Verurteilung wird damit unwahrscheinlich. Die Journalistin Beate Klarsfeld, die sich im Nachkriegsdeutschland einen Namen als "Nazi-Jägerin" machte, sieht die juristische Aufarbeitung im Jahr 2013 deshalb kritisch. "Es macht die Justiz lächerlich, denn sie hatte ja die Möglichkeit, gute Prozesse zu führen", sagt sie. Viel entscheidender sei es, die Erinnerung an die Verbrechen durch Mahnmäler und Gedenkstätten aufrechtzuerhalten. Klarsfeld wurde berühmt, weil sie 1968 den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger auf einem CDU-Parteitag wegen seiner NSDAP-Vergangenheit ohrfeigte und als Nazi beschimpfte.
Die Toten nicht vergessen
Für die Angehörigen der Opfer sind die Ermittlungen dennoch von moralischer Bedeutung. "Die Gerechtigkeit ist ein hohes Gut, und wenn die Strafverfolgungsbehörde jetzt eine Möglichkeit sieht, Lipschis vor Gericht zu bringen, dann soll und muss sie dieses tun", sagt der Geschäftsführende Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees (IAK), Christoph Heubner, der DW. "Die Untaten von Auschwitz verjähren nicht, die der anderen Lager auch nicht.". Den Verweis auf das Alter betrachtet er als "zynische" Lustlosigkeit. "Um das Alter der Kinder, die in die Öfen gebracht wurden, hat sich auch niemand gekümmert."
Auch Kurt Gutmann, ein Nebenkläger im Demjanjuk-Prozess, sagte der Deutschen Welle: "Es bringt Genugtuung, das noch erlebt zu haben, dass doch etwas geschieht, dass die Toten nicht vergessen sind, dass man hinter den Verbrechern auch im hohen Alter noch hinterher ist." Ob und wann dem möglichen KZ-Aufseher Lipschis eine Verurteilung droht, ist jedoch noch unklar.