Verfassungsentwurf in Thailand
5. September 2015Es gibt viele Streitpunkte in dem Verfassungsentwurf, den die verfassungsgebende Versammlung dem Reformrat am Sonntag zur Abstimmung vorlegt. Aber keine Passage erhitzt die Gemüter der Kritiker so, wie die Einrichtung des Nationalen Reform- und Versöhnungskomitees (NRVK) oder kurz, des Krisengremiums. Abschnitt 260 des Entwurfs sieht vor, dass eine Gruppe von 22 Personen, darunter der Premierminister sowie die Chefs der Teilstreitkräfte und der Polizei, in Krisenzeiten alle gesetzgebende und ausführende Gewalt an sich reißen können. Wann genau ein solcher Krisenfall eingetreten ist, entscheiden sie mit einer Zweidrittelmehrheit mehr oder minder selbst.
Politische Parteien jeglicher Couleur verurteilen diesen Passus scharf, nennen ihn undemokratisch. "Die Einrichtung des Krisengremiums dient dazu, die Macht der Militärjunta zu erhalten", schreibt die Pheu Thai Partei der ehemaligen Regierungschefin Yingluck Shinawatra, die 2014 vom Militär abgesetzt wurde, auf ihrer Website.
"Regierung durch verfassungsgemäße 'Superinstanz' ersetzt"
Abhisit Vejjajiva, Parteichef der Demokratischen Partei, sagte inländischen Medien, er glaube nicht daran, dass das Krisengremium in der Lage sei, eine politische Krise wie die, die im vergangenen Jahr zum Militärputsch geführt habe, adäquat handhaben zu können. "Diese Regelung lässt sich nicht mit Notstandsgesetzen aus anderen Ländern vergleichen", sagt Henning Glaser, Direktor des Deutsch-Südostasiatischen Exzellenzzentrums für Public Policy und Good Governance an der Thammasat Universität in Bangkok. "Normalerweise bekommen gewählte Regierungen durch ein Notstandsgesetz mehr Macht, um der Situation Herr werden zu können. Hier aber wird die gewählte Regierung durch eine verfassungsgemäße 'Superinstanz' ersetzt."
Sogar die Autoren des Verfassungsentwurfes selbst streiten gewisse demokratische Defizite nicht ab. "Sie können es nicht komplett demokratisch nennen", sagt General Lertrat Ratanavanich, Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung, im Gespräch mit der DW. Er betont jedoch, dass das Krisengremium nur für Situationen wie die politischen Unruhen 2010 oder 2014 gedacht sei, bei denen es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in den Straßen von Bangkok kam. "Unter normalen Umständen hat das Krisengremium keinerlei Rechte, in die Führung des Landes einzugreifen", beteuert Lertrat.
"Selbst wenn das Krisengremium aktiv wird, dann nur für eine sehr kurze Zeit", versichert Lertrat Ratanavanich. "Sobald sich die Situation wieder entspannt, werden sie die Bevölkerung informieren und dann kann die eigentliche Regierung wieder übernehmen." Die Vorkehrung sei notwendig, um nötige Reformen in Thailand umzusetzen. "Man muss sich Thailand als einen kranken Mann vorstellen", erklärt Lertrat, "der wieder zu Kräften kommen muss, um nach vorne schreiten zu können." Deshalb sei die Krisen-Regelung nur für eine Dauer von fünf Jahren vorgesehen.
"Das geht in Richtung Hybridsystem"
Aber auch andere Punkte des Verfassungsentwurfs rufen die Kritiker auf den Plan. Von den 200 Sitzen im Senat sollen nur 77 durch Wahlen besetzt werden. Der Rest wird ernannt. Sorgen, dies könnte eine Verfassungsänderung schwierig bis unmöglich machen, wehrt Lertrat Ratanavanich ab. "Das Abgeordnetenhaus und der Senat müssen einer Verfassungsänderung in einer gemeinsamen Abstimmung mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmen", erklärt der General. Eine solche Mehrheit sei durch die gewählten Vertreter in beiden Häusern ohne Weiteres zu erreichen.
Dennoch, der Senat hat die Macht, einfache Gesetze mit seiner ernannten Mehrheit zu blockieren. "Das geht in Richtung eines Hybridsystems", sagt Michael Winzer, Direktor der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Bangkok. "Es gibt darin demokratische Elemente, aber es gibt eben auch ganz klar Institutionen, die die Demokratie sehr stark einschränken. Das zeigt, dass man einer Parteiendemokratie noch nicht vertraut."
Für Henning Glaser ist das keine Überraschung. "Aus der Sicht des traditionellen thailändischen Verfassungsdenkens war die elektorale Demokratie schon immer ein Risiko", sagt Glaser. "Aber seit Thaksin das System durch den Missbrauch seines politischen Mandats herausgefordert hat, wird sie zunehmend als akute Gefahr gesehen." Eine Gefahr, so Glaser, die sich seit dem Coup 2006 noch verstärkt hat, als die Forderung nach einer elektoralen Demokratie zu einer Volksbewegung wurde. "Das fordert das komplette gesellschaftliche und politische System heraus und keiner weiß, wie das ausgehen wird. Es ist schwer vorstellbar, wie man unter diesen Bedingungen eine gute und dauerhafte Verfassung erarbeiten kann", glaubt Glaser.
"Wir werden sehen"
Lertrat Ratanavanich ist dennoch zuversichtlich, dass der Verfassungsentwurf vom Reformrat am Sonntag angenommen wird. Er glaubt auch an eine Zustimmung der Wähler, sollte es zu einem Referendum kommen - ein Optimismus, den viele politische Beobachter und Akteure nicht unbedingt teilen. Nicht zuletzt, weil aufgrund einer falschen Formulierung im Verfassungstext in einem Referendum derzeit eine Mehrheit aller Stimmberechtigten statt einer Mehrheit aller abgegebenen Stimmen notwendig wäre, um die Verfassung anzunehmen. Eine Hürde, da sind sich die Beobachter einig, die so gut wie unerreichbar ist.
Sollte dieser Lapsus rechtzeitig korrigiert werden und die Verfassung in Kraft treten, wäre es Thailands Zwanzigste seit 1932, inklusive der vielen Übergangsverfassungen. Bezüglich ihrer Lebensdauer möchte selbst Lertrat Ratanavanich keine Vorhersage riskieren. "Wir werden sehen," sagt er mit einem Lachen, "wir werden sehen."