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Politik

Hunger bedroht eine ganze Generation

Yan Boechat jdw
1. März 2018

In Venezuela hat der Staat die Aufgabe an sich gerissen, die Bevölkerung zu ernähren. Doch er scheitert und scheitert. Auf einer Station für unterernährte Kinder in Caracas zeigt sich das Ausmaß des Staatsversagens.

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Unterernährung in Venezuela
Bild: DW/Y. Boechat

Kinder wie Félix Baron zu behandeln, gehört im Kinderkrankenhaus Juan Manuel de Los Rios in Caracas inzwischen zur Normalität. Sein Alter: elf Monate. Sein Gewicht: fünf Kilo. Das ist etwas mehr als die Hälfte von dem, was er wiegen sollte. Seine Mutter Jamile erzählt, sie wisse nicht, was mit ihrem Jungen los sei, irgendetwas müsse seinen Appetit beeinträchtigen.

Früher war Jamile Köchin in einem gehobenen Restaurant der venezolanischen Hauptstadt, nun ist sie arbeitslos. Ihr Ehemann hat noch eine Stelle - im öffentlichen Dienst. Wie die meisten Venezolaner bezieht er den monatlichen Mindestlohn: 248.510 Bolívar und Essensmarken im Wert von weiteren 549.000 Bolívar. Nach offiziellem Wechselkurs wären das insgesamt 238 US-Dollar. Auf dem Schwarzmarkt, faktisch die einzige Tauschmöglichkeit, bekommt man dafür etwa 6,5 US-Dollar.

Ein Tiefkühlhähnchen kostet mehr als die Hälfte davon. Dennoch bestreitet Jamile, zu hungern: "Natürlich haben wir unseren Fleischkonsum reduziert, aber wir haben Essen auf dem Teller", sagt sie und weist jede Anspielung zurück, der Zustand ihres Sohnes könnte etwas mit dem Mangel an Lebensmitteln zu tun haben. Immerhin gibt sie zu, dass sie allein im Jahr 2017 etwa zehn Kilo verloren habe.

Große Bevölkerungsteile sind unterernährt

Damit ist sie nicht allein: Eine gemeinsame Studie dreier venezolanischer Universitäten im ersten Halbjahr 2017 ergab, dass 70 Prozent der Studienteilnehmer in den sechs vorangegangenen Monaten abgenommen hatten - im Durchschnitt etwa sechs Kilogramm. 

Selbst wenn die Stichproben nicht repräsentativ für das ganze Land sind, geben sie doch einen Eindruck von der Dimension des Problems. Klar ist: Ob in den dicht besiedelten Ballungsräumen und Großstädten der Karibikküste, den ländlicheren Gebieten in den Andenausläufern oder in den völlig entlegenen Gebieten nahe der brasilianischen Grenze: Überall in Venezuela gibt es Menschen, die hungern.

Unterernährung in Venezuela
Bei kleinen Kindern sind die Folgen der Mangelernährung besonders gravierend Bild: DW/Y. Boechat

Und die Knappheit ist längst nicht mehr nur ein Problem für die ärmsten Familien. Mit mehr als 2000 Prozent Inflation im vergangenen Jahr betrifft der Kaufkraftschwund alle Einkommenssegmente. 2018, befürchten Analysten, könnte der Wertverlust 10.000 Prozent erreichen. Die Maßnahmen der Regierung sind kaum geeignet, die Krise auch nur einzudämmen. Denn eine eigene Kryptowährung oder sporadische Lohnerhöhungen schaffen das grundlegende Problem nicht aus der Welt, dass nämlich die Wirtschaft in fast allen Sektoren brach liegt.

Sogar die Erdölförderung, aus der weit über 90 Prozent der Deviseneinnahmen stammen, erreichte im November 2017 ein 30-Jahres-Tief. Folglich schwinden die Devisenreserven, der Staat gilt als teilweise zahlungsunfähig, weil er mit Rückzahlungen im Verzug ist, und so fehlt es der Regierung an Geld, mit dem sie Lebensmittel importieren kann. Dabei stammen nahezu sämtliche Nahrungsmittel, die im Land konsumiert werden, aus dem Ausland, weil auch die einst produktive Landwirtschaft mittlerweile so gut wie still steht.

Am schlimmsten trifft es Kinder

Besonders schlimm trifft die Nahrungsmittelknappheit die Kinder. Denn während der frühen Entwicklung - von der Empfängnis der Mutter bis zum zweiten Geburtstag des Kindes - haben Mangel- und Unterernährung besonders gravierende Folgen für die körperliche und geistige Entwicklung.

Laut einer Erhebung der Caritas Venezuela in Großstadtvierteln mit niedrigen und sehr niedrigen Einkommen waren 15,5 Prozent der Kinder unter sechs Jahren unterernährt. Weitere 20 Prozent waren unmittelbar von Unterernährung bedroht. "Die Datenbasis ist klein und sie bildet nicht die gesamte Bevölkerung ab", räumt Janeth Rodrigues, Leiterin der Hilfsorganisation, ein, aber solche Erhebungen wären ja auch eigentlich Aufgabe der Regierung. "Aber die hat seit mehr als zwei Jahren keine Daten mehr dazu veröffentlicht." Für Rodrigues steht dennoch fest, dass die untersuchten Regionen nach Kriterien der Vereinten Nationen eindeutig im Begriff seien, in einen Ernährungsnotstand abzurutschen: "Das ist sehr schwerwiegend und bedarf der Intervention internationaler Organismen - wesentlich größerer Akteure, als wir es sind."

Wenn die Caritas-Daten repräsentativ für ganz Venezuela sind, müssten mindestens 300.000 Kinder zwischen null und fünf Jahren moderat oder schwer unterernährt sein - allein in der Unter- und unteren Mittelschicht.

Unterernährung in Venezuela
Bei einer Studie gaben 70 Prozent der Venezolaner an, zuletzt abgenommen zu haben - im Durchschnitt sechs KiloBild: DW/Y. Boechat

Eine humanitäre Katastrophe bahnt sich an

Wenn sich das Ausmaß der humanitären Krise noch in Grenzen hält, dann nur, weil die Regierung immerhin Lebensmittel verteilt, seit ihr die ökonomische Situation vor zwei Jahren vollends außer Kontrolle geraten ist. Die "CLAP-Kisten", benannt nach der spanischen Abkürzung für die "Lokalen Versorgungs- und Produktionskomitees", denen die Ausgabe der Rationen obliegt, enthalten Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl, Öl, Nudeln, Zucker und Salz: jede Menge Kohlenhydrate und etwas Fett also, aber fast keine Proteine - weder pflanzliche, noch tierische.  

Das Essen mag also satt machen, wie Jamile, die Mutter des kleinen Félix Baron, behauptet. Aber eine ausgewogene Ernährung sei damit kaum möglich, sagt Ingrid Soto de Sanabria, Leiterin der Station für medizinische Ernährung, in der Félix behandelt wird: "Das ist eine sehr schlechte Ernährung." 

"Wir erleben eine Tragödie, die noch viele, viele Jahre nachwirken wird", sagt die Ärztin. Ohne die CLAP-Kisten, räumt sie ein, wäre die Situation freilich noch schlimmer. Dennoch macht sie keinen Hehl aus ihren Befürchtungen: "Wir laufen Gefahr, eine ganze Generation zu verlieren, und wir werden lange brauchen, um uns davon zu erholen."