Vegetarier bekommen Appetit auf Fleisch
2. Januar 2013Es klingt zunächst widersprüchlich: Indien, das Land der Vegetarier, verzeichnet einen rapiden Anstieg des Fleischkonsums. Statistiken zufolge ernähren sich 40 Prozent der Inder fleischlos. In keinem anderen Land der Welt ist damit der Anteil der Vegetarier so hoch wie in dem südasiatischen Land. Doch in den vergangenen zehn Jahren hat sich der Fleischkonsum in Indien mehr als verdoppelt. 2009 lag er bei etwa 5,5 Kilo pro Kopf, wie Statistiken der Welternährungsorganisation belegen. Das ist immer noch wenig im Vergleich zu Deutschland: 61 Kilogramm Rind-, Schweine- und Geflügelfleisch verzehrt jeder Bürger hierzulande pro Jahr, so das Statistische Bundesamt. Doch in Indien schießen in jeder Stadt inzwischen westliche Fast-Food-Ketten wie Pilze aus dem Boden.
Fleischkonsum als Statussymbol
Mit ihren großen Leuchtreklamen locken sie vor allem die jüngeren Kunden an. Besonders an den Wochenenden sind die Restaurants brechend voll. In den großen Metropolen wie Delhi, Mumbai, Chennai oder Kolkata (dem früheren Kalkutta) verbringen ganze Familien ihre Freizeit gemeinsam bei Cola, Pommes Frites und Burgern bei McDonald's, oder sie verdrücken bei Kentucky Fried Chicken vor Öl triefende, panierte Hähnchenteile.
Der Arzt und Diabetes-Experte Sanjay Sanadhya aus Neu Delhi sieht diese Entwicklung skeptisch: "Die Menschen in Indien imitieren einfach den westlichen Lebensstil. Man sieht, wie sie sich generell von den eigenen kulturellen Traditionen entfernen. Hinzu kommen noch Faktoren wie die Globalisierung und die wachsende Mobilität der Menschen, die immer öfter auch in den Westen reisen."
Fleisch zu konsumieren wird in der indischen Mittelschicht gerade von der jüngeren Generation gleichgesetzt mit Weltoffenheit und einem gewissen Bildungsstandard. Und es gilt darüber hinaus als Zeichen des Wohlstands: Fleischgerichte sind teuerer als vegetarische. Jaspreet Singh, ein junger Student, isst seit jeher Fleisch und Fisch: "Ich achte darauf, genügend Proteine zu mir zu nehmen. Ich esse Hühnchen, Lamm und Fisch. Mir sind mein Körper und meine gute Figur sehr wichtig." Seine Generation wolle eben alles ausprobieren, so Jaspreet Singh: "Wer seine Interessen beschränkt, der begrenzt sein Leben. Auch wenn mir vielleicht nicht alles schmeckt oder nicht gefällt, will ich aber doch alles mal ausprobieren, gerade beim Essen und Trinken." Man müsse sich eben anpassen, formuliert es Jaspreet Singhs Kommilitonin Neha Chauhan. Sie ist zwar Vegetarierin. Ihre Schwester und ihr Vater essen aber Fleisch: "Meine Schwester reist sehr viel, sie muss sich anpassen. Ich musste das bisher nicht und kann selbst entscheiden. Aber wenn ich in einer anderen Umgebung leben müsste, dann würde ich mich vielleicht auch anpassen und Fleisch essen."
Religiöse Tabus
Lange Zeit hielten religiöse Tabus viele Menschen in Indien davon ab, Fleisch zu essen. Bereits vor Jahrhunderten wurde in alten, hinduistischen Texten der Verzicht auf Fleisch gepriesen. Für gläubige Hindus ist die Kuh ein heiliges Tier; Kühe zu schlachten ist in Indien verboten. Die Hindus machen etwa 80 Prozent der indischen Bevölkerung aus. Wer Fleisch aß, galt als unzivilisiert und barbarisch.
Auch Mahatma Gandhi, der politische und spirituelle Vater der indischen Unabhängigkeit, lebte streng vegetarisch. Der Verzicht auf jede Form von Gewalt - ein Grundpfeiler seiner Lehre - begann für ihn am Esstisch mit der Nahrungsaufnahme. Genauso denkt auch Kirti Sharma, eine junge Frau Anfang zwanzig aus Neu Delhi. Doch sie gibt zu, dass in ihrer Generation immer weniger Menschen so denken: "Ich glaube, dass es viel besser ist, vegetarisch zu leben. Denn Tiere zu schlachten, andere Lebewesen zu töten, das kann nicht gut sein." Kirti Sharma betont, dass sie zu der Kaste der Brahmanen gehört, denen der Verzehr von Fleisch eigentlich verboten ist. Ihre Eltern würden daher sehr darauf achten, dass sie keine tierischen Produkte isst: "Es wird nur manchmal schwierig, wenn ich auf Partys eingeladen bin. Denn in vielen Kuchen ist Ei enthalten. Und dann muss ich das doch irgendwie essen."
Andere Religionsgruppen in Indien, wie zum Beispiel die Jainas, leben nicht nur streng vegetarisch. Sie essen auch kein Gemüse, das unter der Erde wächst - wie Kartoffeln, Zwiebeln oder Rüben. Beim Herausziehen aus der Erde könnten Lebewesen getötet werden. Deshalb tragen orthodoxe Jainas oft auch einen dünnen Mundschutz, um nicht versehentlich ein Insekt zu schlucken. Den Muslimen schließlich, die etwa 13 Prozent der indischen Bevölkerung ausmachen, ist der Verzehr von Schweinefleisch untersagt.
Große Fastfoodketten wie McDonald's haben sich an den indischen Markt angepasst. So bietet das US-Unternehmen, das seit 1996 auf dem indischen Markt präsent ist, keine Rindfleischburger an, dafür aber den sogenannten "Chicken Maharaja Burger". Jeder, der ihn verzehrt, soll sich dabei, so die Werbebotschaft, wie ein Großkönig, eben wie ein Maharaja, fühlen. Das geschickte Marketing - mit Bollywood- oder Cricketstars - wird von Experten mit als ein Grund gesehen, warum der Konsum von Fleisch und von Fastfood in Indien insgesamt zunimmt.
Neue Probleme
Und diese Entwicklung bringt neue Probleme mit sich: Der neue ungesunde Lebenswandel wird zum Risikofaktor, vor allem bei der städtischen Bevölkerung. Angesichts des steigenden Konsums von Zucker und Fett bei gleichzeitig immer weniger Bewegung seien gesundheitliche Probleme programmiert, sagt der Arzt und Diabetes-Experte Sanjay Sanadhya: "Sogenannte Lifestyle-Krankheiten nehmen zu. Herz-Kreislauferkrankungen, hoher Blutdruck, Fettleibigkeit, Diabetes, Schlaganfälle. In den vergangenen drei Jahrzehnten sind die Zahlen sprunghaft angestiegen. Und ich kann voraussagen, dass sich die Situation noch verschlimmern wird."