Uwe Timm: "Johannisnacht"
7. Oktober 2018Er gilt als literarischer Chronist der 68er Studentenrevolte. Mehrere Romane und Erzählungen hat Uwe Timm diesem historischen Zeitabschnitt gewidmet. Er selbst war mittendrin: Neben seinem Philosophiestudium engagierte sich Timm beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), deren Funktionäre damals zu den Wortführern zählten.
Aber auch die jüngere Zeitgeschichte, die politischen Verwerfungen der "Wendezeit" nach dem Mauerfall 1989, weckten sein Interesse als Schriftsteller. Berlin, wo Uwe Timm eine Zweitwohnung zum Schreiben hat, ist zu dieser Zeit nicht nur politisch eine Großbaustelle.
"Seit der Wiedervereinigung steht man im Stau. Überall Baustellen, Umleitungen, Einbahnstraßen, wo gestern keine waren. Das geht so weit, dass wir jetzt auf dem Potsdamer Platz einen See haben. Eine riesige Baugrube, mit Schwimmbagger, Schuten und zwei Schleppern."
Auf den historischen Spuren der Kartoffel
Zu Beginn seines Romans "Johannisnacht" befindet sich der Erzähler gerade mitten in einer veritablen Schreibkrise. Nichts will sich an präzise formulierten Sätzen einstellen, was vor seinem kritischen Auge Bestand hätte. Quälende Tage. Nicht mal das streng verbotene Zigarrenrauchen bringt Linderung. Der Anruf eines Zeitungsredakteurs reißt ihn aus seiner Grübelei: Ob er was Historisches über die Kartoffel schreiben könne?
"...Peru-Preußen-Connection. Die Kartoffel und die deutsche Mentalität. Und natürlich persönliche Kartoffelvorlieben. Rezepte. Bratkartoffelverhältnisse."
Der Autor sagt sofort zu – dankbar für die Ablenkung. Schon am nächsten Tag fliegt er nach Berlin.
Dort beginnt für ihn eine ungeahnte Odyssee – durch seltsam sortierte Archive, östliche Wetterlagen und private Niederungen. Kulturelles Epizentrum der zerrissenen Stadt ist in diesen Tagen der Deutsche Reichstag, vom US-amerikanischen Künstler Christo und seiner Frau Jeanne-Claude spektakulär in schimmernde Stoffbahnen gehüllt.
"Am Reichstag sind tausend und abertausend Neugierige auf den Beinen, die Sonne glänzt im grausilbrigen Stoff; mit Seilen verzurrt, die Falten werfen ihre sanften Schatten, ein riesiges verschnürtes Paket, das ist jetzt diese Reichtagskiste... (ich mochte diese Kiste noch nie leiden ... jetzt verpackt, ist dieser Klotz ein verrückt schöner Anblick.)"
Odyssee durch das wiedervereinte Berlin
Aber der Erzähler hat keine Zeit für Kunstbetrachtungen. Bei seinen hartnäckigen Recherchen stößt er auf eine Kostbarkeit: den Nachlass eines verstorbenen Kartoffelforschers, gut versteckt in einem schönen alten Kirschholzkästchen.
"Das ist der Geschmackskatalog, sagte er ... Darin lagen kleine hellblaue Karteikarten, säuberlich beschriftet und einsortiert. Ich blätterte einige Karten durch und las Namen wie: Bettina, Clara, Spunta, Bellaria Veronika, Reichskanzler, Ratte, Monalisa, Sissi, Bintje."
Uwe Timm – ein echter Norddeutscher: wortkarg und zurückhaltend mit Gefühlsäußerungen – lässt seinen Romanhelden weiter durch das wiedervereinte Groß-Berlin treiben. Selbstironie rettet ihn manches Mal. Aber unfreiwillige Kontakte mit Punkern, Waffenhändlern und Ex-Stasi-Offizieren hinterlassen ihre Spuren. Eine schräge, grellgrüne Punkfrisur setzt ihn am Schluß sogar dem Verdacht aus, aus der Werbebranche zu sein.
"Er lachte. Gute Geschichten sind wie Labyrinthe. Ja, sagte ich, inzwischen habe ich allerdings den Faden verloren."
Uwe Timm, Johannisnacht (1996), Verlag Kiepenheuer & Witsch
Geboren ist Uwe Timm in Hamburg, am 30. März 1940. Nach der Volksschule steckt ihn der Vater in eine Kürschnerlehre. Die handwerkliche Präzision ist ihm bis heute zu eigen. Er feilt lange am Satzbau, nimmt Worte weg, streicht Überflüssiges, bis die Sätze endlich sitzen. Das Abitur holt Timm an der Abendschule nach, erst danach fühlt er sich frei zu studieren. München und Paris sind Stationen seines extrem politisierten Studentenlebens. Seit 1971 schreibt er – Romane, Erzählungen, Drehbücher und auch international erfolgreiche Kinderbücher ("Rennschwein Rudi Rüssel"). Er ist Mitglied des PEN.